Hans-Ulrich Obrist: Es gibt verschiedene Fragenkomplexe, die ich ansprechen wollte, unter anderem den Aspekt der Interdisziplinarität. Doch zu Beginn möchte ich Sie nach Ihren aktuellen Arbeiten fragen?
Stanislaw Lem: Diesen Nachmittag habe ich die letzten Korrekturen an einem Typoskript zu einem Buch abgeschlossen, das ich 1963 veröffentlicht habe. In diesem 130-seitigen Dokument überprüfe ich aus heutiger Sicht meine Prognosen von damals. Im Allgemeinen hat sich das, was ich vorausgesagt habe, verwirklicht: die künstliche Realität, das Internet. Vorher habe ich zwei recht kritische Bücher über das Internet geschrieben. Im Moment werde ich mit Anfragen von britischen und deutschen Zeitungen bombardiert. Sie möchten wissen, wie ich die Entwicklungen im neuen Jahrtausend einschätze. Ich bleibe zurückhaltend, und politische Prognosen schließe ich aus. Niemand kann vorhersagen, was das russische Militär machen wird. Die Lage ist sehr instabil: Wir befinden uns auf einer großen Drehscheibe. Als ich anfing, mich für die Zukunftsforschung zu interessieren, befand ich mich in einer Wüstenei. Ich bekam keine Kritiken, und niemand wusste etwas mit meinen Büchern anzufangen. Heute scheinen alle zu wissen, was die Zukunft für uns bereithält. Doch ich bleibe in Bezug auf viele Voraussagen skeptisch. So halte ich die Prognose, dass es gelingen könnte, die Menschen unsterblich zu machen, für ein Märchen. Ich würde mich aber auch gerne mit Ihnen über einen anderen Punkt, den Sie genannt haben, unterhalten – die Interdisziplinarität. Denn gerade die Zukunftsforschung ist ein Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Disziplinen.
HUO: In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wie Sie zur Theorie von Ilya Prigogine über die Nichtvorhersehbarkeit des Verhaltens komplexer dynamischer Systeme stehen?
SL: Wie gesagt, niemand kann vorhersagen, wie die politische Zukunft aussehen wird. Weder Ilya Prigogine noch die Mitglieder der CIA oder des Politbüros können es. Man kann nur Hypothesen aufstellen. Alle reden sehr viel und tun sehr wenig. Ich befasse ich mich lieber mit den fundierteren Wissenschaftszweigen. Dort ist sehr viel in Bewegung. Allerdings kann kein Mensch, sei er noch so genial, wirklich überblicken, was in Forschungsbereichen wie Biologie und Physik wirklich vor sich geht. In beiden Disziplinen werden ständig neue Entdeckungen gemacht. Einer der Gründe dafür ist die unglaublich steigende Anzahl von Wissenschaftlern, die jetzt in diesen Bereichen arbeiten. Und es ist eine Frage des Wissens: Um in der Genetik zu arbeiten, muss man auch in der Theoretischen Physik bewandert sein.
HUO: Was halten Sie für die wichtigsten Entwicklungen in der Wissenschaft in letzter Zeit?
SL: In der Wissenschaft gibt es eine allgemeine Prostitution. Ich möchte das erklären: Da es bisher nicht gelungen ist, künstliche Intelligenz zu entwickeln, ersetzt man die Produkte, die man brauchen könnte, durch meines Erachtens unsinnige Angebote wie zum Beispiel elektronische Katzen oder Hunde. Das ist der Ersatz für die Dinge, die man nicht machen kann. Für mich ist das zweite Problem das unnötige Eindringen von Philosophen und Psychologen in dieses Feld. Während die einen ein Zeitalter der künstlichen Intelligenz vorhersagen, halten die anderen es für unmöglich. Ich verfolge allerdings einen Trend, der versucht, menschliches Denken mithilfe verschiedener Computerprogramme zu simulieren. Diese Richtung ist erfolgversprechend und man merkt, dass im Hintergrund großes Kapital steht. Das Kapital verhält sich wie Wasser. Es fließt in die Richtung, in der Profite zu erwarten sind.
HUO: Als Beobachter, wie behalten Sie den Überblick über diese enorme Menge an Informationen? Welche Veröffentlichungen lesen Sie regelmäßig?
SL: Ich lese hauptsächlich Zeitschriften wie „Science“, „Nature“, „American Scientist“ usw., und ich nutze auch meine persönlichen Kontakte zu Wissenschaftlern, die mir sagen, wo ich nachschauen und wonach ich suchen sollte. Was die Wissenschaft betrifft, ist klar, dass wir noch sehr wenig wissen. Außerdem gibt es sowohl ethisch-moralische als auch technokratische Probleme. Die Gesetzgebung hinkt dem Fortschritt des Wissens nur langsam hinterher. Und wir haben keine moralischen Regeln oder klar definierte Ethik. Niemand weiß, ob der menschliche Körper als Lager für Ersatzteile genutzt werden kann oder nicht. Das gilt auch für die Verwendung erforschter Gene – vieles ist noch unklar.
HUO: Ich würde auch gerne wissen, was Sie von Andrei Tarkowskis Verfilmung Ihres Romans Solaris (1961) aus dem Jahr 1972 halten. Hatten Sie Tarkowski vor den Dreharbeiten zu dem Film getroffen?
SL: Wir haben uns oft getroffen, als ich in Moskau war. Eigentlich interessiere ich mich nicht im Geringsten für Filme oder Kino. Ich habe keine Zeit, mir Filme anzusehen.
Dieses Gespräch fand 1999 in Krakau statt.