Die Zukunft im Blickfeld

Die Ursache der Projekte von museum in progress liegt in der Zukunft (frei nach Joseph Beuys)! Mit der Zukunft im Blickfeld verändern sich unsere Handlungen in der Gegenwart. Die Zukunft in unseren Vorstellungen hat somit Auswirkungen auf die Gegenwart. Schon bei der Gründung von museum in progress im Jahr 1990 hatten Kathrin Messner und Josef Ortner († 2009) die Zukunft fest im Blick. Mit ihrer gemeinsamen Vision einer Kunstinitiative, die sich auf außergewöhnliche Kunstprojekte in öffentlichen und medialen Räumen fokussiert, überzeugten sie nicht nur die Künstler*innen, die es als beglückend empfanden, mit museum in progress außerhalb des musealen White Cube arbeiten zu können, sondern auch Partner aus der Wirtschaft als Sponsoren. Das große Netzwerk von Kathrin Messner und Josef Ortner über die Wiener Kunstszene hinaus half bei der Etablierung von museum in progress, dessen Projekte von Anfang an global ausgerichtet waren und viele internationale Künstler*innen und Kurator*innen inkludierten. Seit über dreißig Jahren verfolgt museum in progress stets das Ziel, neue Ausstellungsformen für zeitgenössische Kunst zu entwickeln und möglichst viele Menschen in ihrem Alltag mit hochqualitativer Kunst zu erreichen.

Ohne eigenes Ausstellungsgebäude operiert museum in progress an der Schnittstelle von Kunst und Leben, jenseits traditioneller Präsentationsformate. Für seine Ausstellungen nutzt es Freiräume, die temporär zu Aktionsräumen für künstlerische Interventionen werden, beispielsweise in Zeitungen und Magazinen, auf Plakatflächen und Gebäudefassaden, in Konzertsälen und im Fernsehen oder sogar an Bord von Flugzeugen. museum in progress versteht sich als kreatives Labor und als „Kraftwerk“ (Alexander Dorner). Mit der Zukunft im Blick konzipierten Kathrin Messner und Josef Ortner das museum in progress und später auch die one world foundation in Sri Lanka als soziale Skulpturen im Sinne von Joseph Beuys. Sein Gedanke, dass unser Handeln ein künstlerischer Akt sein kann, der die Gesellschaft wie eine Skulptur formt und als Katalysator ihre Entwicklung positiv beeinflusst, ist eine wichtige Triebfeder für die Projekte von museum in progress. Als „System der Welterschließung“ (Cathrin Pichler) ist die Kunst in der Lage, zum Nachdenken anzuregen, gesellschaftliche Missstände zu beleuchten sowie neue Perspektiven auf die Wirklichkeit zu geben. Die Überzeugung, dass Kunst unabhängig ihrer Form oder Inhalte immer politisch ist, da sie das Denken und den Blick der Menschen verändert, prägt das Selbstverständnis der Projekte von museum in progress als gesellschaftspolitische Handlung. Schließlich ist der menschliche Kopf bekanntlich deshalb rund, „damit das Denken die Richtung wechseln kann“ (Francis Picabia). Dabei legt museum in progress großen Wert darauf, frei von politischer Einflussnahme zu agieren, wodurch der Raum für mutige Projekte geschützt wird.

Die Veränderung ist inhärenter Teil des Museumskonzeptes von museum in progress und wird bereits in seinem Namen mit dem Zusatz „in progress“ ausdrücklich betont. Ohne Veränderung wäre die zeitgenössische Kunst, wie wir sie kennen, undenkbar, gelten doch Innovation und Originalität als zentrale Qualitätsmerkmale zeitgenössischer Kunst. Da erscheint es auch für Museen als institutionelle Träger der Kunst naheliegend, wandelbare Ausstellungsformen zu entwickeln, um die jeweiligen zeitgenössische Kunstwerke möglichst optimal präsentieren zu können. museum in progress ist ein immaterielles Museum mit flexibler Struktur, „eine ewige Baustelle“ (Chiara Parisi). In Anlehnung an den „erweiterten Kunstbegriff“ von Beuys beansprucht und erweitert es den Museumsbegriff und transformiert durch seine Aktivitäten den öffentlichen und medialen Raum in ein fluides „Museum“. Die Frage nach der Zukunft der Museen wird aktuell durch die Covid-19-Pandemie weltweit verstärkt diskutiert. museum in progress beschäftigt sich mit dieser Frage seit seiner Gründung und präsentiert seine Visionen für das Museum der Zukunft im Rahmen seiner Kunstprojekte, die somit auch als Feldversuche verstanden werden können und im besten Falle modellhaft einen Beitrag zum Museumsdiskurs leisten.

Im Bereich Zeitungs- und Magazinkunst realisierte museum in progress bisher mehr als eintausend Werke in diversen Medien. Dabei reicht die Bandbreite künstlerischer Interventionen in den Printmedien von kleinformatigen Inserts bis zu mehrseitigen Arbeiten, von einmaligen Beiträgen bis zu Gruppenausstellungen und seriellen Schaltungen. Die bisherigen Medienprojekte wurden teilweise über Zeiträume von mehreren Jahren umgesetzt, sie bestehen aus bis zu neunundneunzig Einzelwerken und umfassen oftmals mehrere, bis hin zu achtzehn Medienpartnern. Mit seinen Ausstellungen in Zeitungen und Magazinen knüpft museum in progress an Projekte in Massenmedien an, die in den 1960er-Jahren ihren Anfang nahmen. Wichtige Vorreiter waren beispielsweise Dan Graham mit „Figurative“ im Modemagazin Harper’s Bazaar (1965) oder Allen Kaprow mit seinen „Falschen Fotos“ in der Wochenzeitung Die Zeit (1981). Es ließen sich noch zahlreiche weitere Kunstprojekte in Printmedien anführen, allerdings nimmt museum in progress in diesem Bereich aufgrund der großen Anzahl, Vielfältigkeit und der hohen Qualität der realisierten Werke eine weltweit singuläre Position ein. Keine andere Institution realisierte in ähnlichem Umfang vergleichbare Werkgruppen. Die Arbeiten von museum in progress werden jeweils spezifisch für den Medienraum konzipiert und sind nicht als Reproduktionen von Kunstwerken zu verstehen, sondern funktionieren als Multiples, als eigenständige Werke in der Auflage des jeweiligen Mediums. Folglich wird die einzelne Zeitung beziehungsweise das einzelne Magazinheft zu einem Original. Damit wird nicht zuletzt auch das Sammeln zeitgenössischer Kunst demokratisiert und für alle erschwinglich gemacht. Institutionen wie das Museum of Modern Art (MoMA) in New York, das Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, die Frac Bretagne und das mumok in Wien haben den Stellenwert der Multiples von museum in progress längst erkannt und große Bestände in ihre Sammlungen aufgenommen.

Durch Projekte in medialen und öffentlichen Räumen wird auch der Zugang zur Kunst demokratisiert. Dabei setzt museum in progress bewusst nicht auf Populärkultur, sondern verfolgt hohe Qualitätsansprüche, die als Grundvoraussetzung für alle seine Projekte fungieren. museum in progress strebt danach, bleibende Werke und Werte zu schaffen, allerdings – paradoxerweise – im Rahmen temporärer Kunstprojekte. Ephemere Kunstprojekte verfügen über einen eigenen Zauber, der eine erhöhte Aufmerksamkeit des Publikums bewirkt und zu intensiven Kunsterlebnissen führt. Auch Menschen ohne Vorwissen zu Kunst werden von diesem Zauber erfasst, wobei die Unmittelbarkeit der Begegnung in öffentlichen und medialen Räumen den Erfolg der Kontaktaufnahme entscheidend begünstigt.

Das Archiv von museum in progress verfügt über einen umfangreichen Fundus an Werken von enormer inhaltlicher und formaler Bandbreite. Zu zahlreichen Themenbereichen lassen sich spannende Arbeiten finden, wie beispielsweise zu Identität und Geschlechterrollen, Arbeit und Religion, Medien und Diskurs, Individualismus und Menschengruppen, Beziehungen und Körperlichkeit, Rassismus und Migration, Krieg und Gewalt, Erinnerungskultur und Politik, Netzwerke und Kartographie, Urbanismus und Verkehr, Umwelt und Tierreich, Robotik und Populärkultur oder Kunst und Inszenierung. Die Aktualität vieler Arbeiten in Bezug auf gesellschaftliche Themen der Gegenwart zeugt von der Zeitlosigkeit der Kunstwerke und ihrer Offenheit für multiple Lesarten. Bis heute hat das Konzept von museum in progress nichts an Relevanz verloren. Aufgrund der programmatischen Wandelbarkeit ist es in der Lage, seine Projekte am Puls der Zeit zu realisieren. Dabei wird durch außergewöhnliche Präsentationsformen eine Interaktion mit zeitgenössischer Kunst ermöglicht, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Auf das starke Fundament der Vergangenheit aufbauend, bleibt der Blick von museum in progress für seine Projekte in der Gegenwart fest in die Zukunft gerichtet.

Kaspar Mühlemann Hartl, 2021

(Auszug aus: Editorial, in: museum in progress, Kunst in öffentlichen und medialen Räumen – DURCH EIN ENDE REIN & DURCH DAS ANDERE DURCH [ & DANN NOCH EINMAL ], 2021: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln)

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