Eiserner Vorhang 2021/2022

Pink Sunshine

Beatriz Milhazes‘ erster und bislang einziger Aufenthalt in Wien ist schon zwei Jahrzehnte her. Es war im Winter 1999, als sie hier drei Wochen lang an einem Projekt arbeitete, das schlussendlich wegen mangelnder Finanzierung nie realisiert werden konnte. Die Brasilianerin erinnert sich an eine graue, kalte und deprimierende Stimmung, die dank Besuche in der Wiener Staatsoper glücklicherweise aufgehellt werden konnte. Als große Opernliebhaberin kannte sie die Reputation dieses Hauses und von den drei Aufführungen, die sie sah, war sie begeistert. Der Wiener Winter bildet mit Sicherheit einen starken Kontrast zur Winterzeit in Rio. Milhazes beschreibt diese als eine relativ milde Saison, die nichts mit der in den meisten Gegenden Europas verbreiteten Kälte und Dunkelheit gemeinsam hat. Haben etwa ihre Erinnerungen an Wien sie dazu bewogen, mit Pink Sunshine etwas Wärme und Heiterkeit hierher zu bringen?

Die Künstlerin lässt die Frage offen. Titel spielen in ihrem Werk keine bedeutende Rolle. Hin und wieder wählt sie einen, der eine thematische Verbindung zum Werk hat, doch üblicherweise vergibt sie Titel lediglich, um die Werke voneinander unterscheiden zu können. Was Pink Sunshine vielmehr auszeichnet, ist die außergewöhnliche künstlerische Schaffensphase, für die die Komposition steht und deren Voraussetzungen vom aktuellen Kontext der Pandemie definiert wurden.

Milhazes ist in erster Linie Malerin. Selbst wenn sie sich mit unterschiedlichen Techniken wie der Malerei, der Collage, dem Siebdruck, der Bildhauerei und der Tapisserie befasst, bildet die Malerei, für die sie als Bildträger nicht nur die klassische Leinwand, sondern auch Wände, Glas oder Keramik verwendet, die Grundlage ihres Gesamtwerkes. Die durch die Ausbreitung von Covid-19 verursachten Einschränkungen sowie die temporäre Schließung ihres Ateliers haben sie jedoch dazu gezwungen, ihre Arbeit umzustellen, und sie dazu animiert, sich dem Zeichnen zu widmen. Milhazes realisiert normalerweise so gut wie keine Zeichnungen. Ausnahmen bilden die Skizzen, die zur Vorbereitung von außerordentlich großformatigen Gemälden, Wandmalereien oder Tapisserien entstehen und in groben Linien Komposition und Farbgebung definieren.

In der Pandemie jedoch, wo sie wie zahlreiche andere viel Zeit zu Hause verbringt, entdeckt sie ihr Interesse für die Intimität des Zeichnens. Zum ersten Mal in den mehr als dreißig Jahren ihrer künstlerischen Laufbahn befasst sie sich intensiv mit Zeichnungen und versteht sie nicht mehr nur als Vorstufe, sondern als eigenständige Kunstwerke. Eine dieser Zeichnungen bildet die Vorlage für Milhazes‘ Gestaltung des Eisernen Vorhangs.

Bei der Betrachtung von Pink Sunshine fällt an erster Stelle die Farbigkeit auf. In diesem Zusammenspiel von zarten Pastellnoten und intensiven Farbtönen, von Kreisen, Linien und Wellen kommt die Dreiteilung der Komposition zum Vorschein. Im zentralen und zugleich ruhigsten Drittel treffen Linien, gerade und geschwungene, aufeinander und bilden, ähnlich einer Meereslandschaft, den Hintergrund für eine Anreihung von geometrischen Elementen, die sich wie eine Schlingpflanze emporzuwinden scheint. Die Themen der Wellenlinie, der blattähnlichen Form und des Kreises werden im linken und rechten Teil wiederholt. Links wirken die Blätter wie die Krone eines Baumes, neben dem an einem Ast lila-rosa Knospen und eine rote Blume blühen. Im rechten Drittel verdichten sich die Motive. Ellipsen überschneiden sich und bilden Blätter. Deren Merkmal, die kontrastreiche Schraffur, nimmt eckige Formen an. Die farbigen Sicheln in den Kreisen evozieren Bewegung und Dynamik. Diese Fülle von Farben und Formen krönen das bekannte Motiv des blühenden Asts und zwei Blumen, einer roten und einer gelben.

Milhazes empfindet die Nähe zur Natur als entscheidend für das Wohlbefinden von Körper und Geist. Sie braucht die Natur, um zu arbeiten, und Spaziergänge am Meer, um durchatmen zu können. Nicht durch Zufall befindet sich ihr Atelier nur wenige Schritte von Rio de Janeiros prachtvollem Botanischen Garten entfernt. Sie liebt ihre Heimatstadt, insbesondere die charakteristische Allgegenwärtigkeit der Natur. Noch mehr als sonst betrachtet sie die Natur im aktuellen von Bedrohung und Ungewissheit geprägten Kontext der Pandemie als wesentlichen Rückzugsort. Es sind allerdings nicht naturgetreue Darstellungen von Blumen und Pflanzen, die Milhazes in ihren Werken wiedergeben möchte. Kennzeichnend für ihr Werk sind lebendige Kompositionen mit abstrakten Ornamenten, stilisierten Blumenmotiven, geometrischen Formen und rhythmischen Mustern in kräftiger, leuchtender Farbenpracht. Wenn auch ihre komplexen Kompositionen asymmetrisch wirken, unterliegen sie strengen Grundsätzen. Milhazes beschreibt sich selbst als ordnungsliebender Mensch und ihre Malerei als sehr rational und geometrisch.

Milhazes‘ optimistischer Charakter, ihre Fröhlichkeit und ihre Lebensfreude sind wahrlich mitreißend und scheinen durch ihre Werke durch. In erster Linie ist es die Intensität der Farben, die dazu beiträgt. Die gesamte Fläche ist mit Farbe bedeckt, kein Fleck wird ausgespart. Die Motive überlappen sich und scheinen sich über die Ränder hinaus fortzusetzen. Die einzelnen Kompositionselemente bilden uniforme Farbflächen mit scharfen Konturen, die zum Teil vehemente Kontraste bilden. Es ist diese Konfrontation von Farben, der Milhazes eine besondere Bedeutung verleiht und die geradezu einen Konflikt bildet, von dem sie sich weder Gewinner noch Verlierer erhofft.

Sowohl die westliche Kunstgeschichte als auch die Geschichte und Kultur ihres Heimatlandes bilden Milhazes‘ wesentlichste Referenzen. Neben Henri Matisse, Piet Mondrian und der Flower-Power-Ästhetik der 1970er-Jahre bezieht sie sich auf den brasilianischen Modernismo. Diese Kulturbewegung erlebte ihre Blütezeit vornehmlich in den 1920er- bis 1940er-Jahren und lehnte die aus der Kolonisierung resultierende Abhängigkeit Brasiliens von Europa ab. Die populäre Kultur und die Traditionen ihres Heimatlandes spielen ebenfalls eine maßgebliche Rolle. Milhazes misst dem Karneval einen großen Wert bei und selbst wenn sie sich selber nicht aktiv daran beteiligt, sind für sie die Energie, die Rhythmik, die Wildheit und die Freiheit, die den Karneval charakterisieren, faszinierend und inspirierend.

 

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