Matthew Barneys ästhetisches Universum ist ein kompliziert zusammengesetztes System, das von den Regeln der metaphorischen Gleichsetzung beherrscht wird. In seinem immer noch unabgeschlossenen, fünfteiligen Zyklus Cremaster bedeutet ein Ding immer ein anderes: die Sportereignisse, die sorgfältig inszenierten Festzüge, heroischen Kämpfe, grausamen Verbrechen und Liebesaffären beschreiben alle zusammen einen ständig sich weiterentwickelnden – gleichzeitig biologischen, psychologischen und technologischen – Organismus, der im harten Wettbewerb mit sich selbst gedeiht. In seiner Arbeit überträgt Barney einen neuen post-ödipalen Mythos auf die Kultur unserer Gegenwart. Seine Version ist eine Gegenerzählung, die eher einen inneren Konflikt, weniger äußere Überlegenheit schildert, ein Epos, das sich genauer Erklärung entzieht und eine Lösung ins Unendliche aufschiebt. Im Gegensatz zur Tragödie von König Ödipus muss hier das Gesetz des Vaters nicht überwunden werden, ganz einfach, weil es gar nicht existiert. Stattdessen wird aus Form Form wieder gezeugt, in einem radikalen Zyklus aus Disziplin, Selbstspaltung und Widerstand.
Barney dreht diese Schlüsselgeschichte der westlichen Zivilisation auf ebenso komische wie hochmütige Weise völlig um, während er ihre ursprüngliche, dramatische Aufführungsform übernimmt. Für jeden seiner Filme, die zu seinem aktuellen Cremaster-Zyklus (der in nicht-chronologischer Reihenfolge produziert wird) gehören, wählt Barney ein anderes Film- oder Theatergenre. Cremaster 1 ist eine freundliche Parodie der musikalischen Extravaganzen eines Busby Berkeley, aufgenommen wie durch Leni Riefenstahls Nazi-Athleten-Linse. Auf einem Footballfeld tanzen lächelnde Revuegirls Figuren nach, deren Form, von oben gesehen, die Umrisse von Geschlechtsorganen nachahmt, ihre Bewegungen steuert ein blondes Starlet, das sich auf wunderbare Weise in zwei über der Arena schwebenden Goodyear-Zeppelinen gleichzeitig aufhält und mit Hilfe von Wein-trauben die entsprechenden anatomischen Diagramme vorzeichnet. Cremaster 2 ist ein Schauer-Western, mit gewissen Anleihen bei der wirklichen Geschichte von Gary Gilmore, der in Utah wegen Mordes an einem Mormonen hingerichtet wurde. Gilmores Biographie wird in einer Serie phantastischer Sequenzen erzählt: z.B. eine okkultistische Séance mit Ektoplasma und von Bienen übertragenem Blütenstaub, die seine Zeugung symbolisieren, oder ein Gefängnisrodeo in einer mit dem Salz des Seebodens aufgeworfenen Arena, als Verweis auf seinen Tod durch ein Erschießungskommando. Der Plot des Films geht dahin, die Unvermeidbarkeit des menschlichen Schicksals, wie es von der Weite der Landschaft widergespiegelt und bezeugt wird, in Frage zu stellen. Cremaster 4 spielt auf der Isle of Man – einem topographischen Körper, den Öffnungen und Passagen durchlöchern –, wo ein hektisches Motorradrennen durch die Landschaft führt, ein dandystischer, steptanzender Satyr sich durch einen tückischen Unterwasserkanal windet und drei stämmige, offensichtlich doppelgeschlechtige Elfen auf einem Wiesenhügel picknicken. Der Film, der Elemente des Vaudeville, der viktorianischen Sittenkomödie und des Roadmovie in sich vereint, porträtiert den reinen Trieb in seinem ewigen Kampf um Selbstüberwindung. Cremaster 5, der Schlussteil der Filmreihe, spielt vor dem barocken Hintergrund der ungarischen Staatsoper, aufgeführt als lyrische Oper, zu der trikoloregeschmückte Tauben, eine liebeskranke Königin und ihr tragischer Held gehören. Die Geschichte fließt vom vergoldeten Bogen des Proszeniums in die Unterwasserwelt der Budapester Donau und in feuchte Thermen, wo hermaphroditische Wassergeister im schäumenden Wasser eines Badebeckens herumtollen.
Die epischen Ausmaße und kosmologischen Dimensionen des Cremaster-Projekts Matthew Barneys haben zu Vergleichen mit Richard Wagners Ring-Zyklus geführt. Diese Analogie im Operngenre ist insofern außerordentlich treffend, als die Vielfalt seiner künstlerischen Praxis sich dem Wagnerschen Konzept des Gesamtkunstwerks annähert. Denn jede Cremaster-Fortsetzung ist weit mehr als der Film gleichen Namens. Jede dieser fünf Filmgeschichten, die für sich stehen und zugleich aufeinander bezogen sind, ist mit der Entstehung von Skulpturen, Fotos, Zeichnungen, Schriftbändern, einem Künstlerbuch und einer Video-Edition verbunden, die in ihrer Häufung wiederum die Serie der Filme noch stärker konkretisiert und definiert. Keine dieser Komponenten ist einer anderen untergeordnet.
Barneys Entwurf für den Eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper stellt anspielungsreiche Beziehungen zwischen Elementen aus dem Cremaster-Zyklus und aus früheren Arbeiten her. Die riesige, rosafarbene (Football)-Feld-Markierung – die Ikone des Künstlers Matthew Barney – dient als Hintergrund für eine abstrahierte Landschaft aus Cremaster 2, in der die Horizontlinie in den Bonneville Salt Flats in Utah durch einen Gebirgszug und sein Spiegelbild in einem See, der sich da für kurze Zeit gebildet hat, hindurchschneidet. Dreht man dieses an eine Form aus dem Rorschach-Test erinnernde Bild in die Vertikale, entsteht unvermittelt eine Erdspalte oder eine Körperöffnung. Zwei junge Satyre – ein Doppelporträt der Figur des Kid aus Barneys Video-Performance Drawing Restraint 7 von 1993 – halten den Rahmen einer hellen Glaslinse. Aus demselben glatten, weißen Plastikmaterial wie Barneys Vitrinen und Rahmen gemacht, ahmt er die Form der Feld-Markierung nach, während die Linse die körperlich anmutende Landschaft fokussiert und weiter verzerrt. Eher spielerisch wirkt eine Blase, die aus einem Satyrauge austritt und jeden Augenblick fortzuschweben scheint. Der Satyr – halb Mensch, halb Tier – ist das mythologische Symbol der merkurischen Verwandlungen und erotischen Hybridität. Er tritt als Jüngling auf, dessen Hörner noch wachsen müssen, steht also hier auch für ungezügelte latente Kraft. Die Zwillingsgestalten nehmen in der Choreographie des Vorhangs gegensätzliche Positionen ein: Die eine dreht sich nach vorn und nimmt das Proszenium und das Publikum physisch wahr, die andere schaut in die entgegengesetzte Richtung, wie in die Träumerei der Bühnenillusion versunken. Der Raum zwischen ihnen bezeichnet eine Schwelle, auf der die Körperlichkeit der Live-Performance und des Theaterkunstwerks in ständiger Spannung präsent ist. In Cremaster 5 erforscht Barney diese Schwelle als den Bereich, wo Kunst möglich wird: wenn die Figur der Diva die Stufen zur Bühne hinaufsteigt, schwankend zwischen Publikum und Bühne, Wirklichkeit und Enttäuschung. Barneys Vorhang für die Wiener Staatsoper ist ein Möbiusband vergangener und gegenwärtiger Bildsprachen, die sich für immer im Kreis drehen, wie der Kid auf der Jagd nach seinem eigenen Schwanz, als Andeutung eines erst noch zu vermessenden Territoriums, auf dem das (inszenierte) Spiel auf der Bühne und die gelebte Wirklichkeit verschmelzen, um neue künstlerische Formen zu schaffen.
(Nancy Spector, Kuratorin für Gegenwartskunst, Guggenheim Museum, New York)