Eiserner Vorhang

Enthüllendes Verhüllen

Der Bühnenvorhang in der Oper rhythmisiert die Aufführungen durch sein enthüllendes Öffnen und sein verhüllendes Schließen. Das gilt auch für die Brandschutzwand, den eisernen Vorhang, der in österreichischen Theaterhäusern nach dem Wiener Ringtheaterbrand 1881 gesetzlich verpflichtend eingeführt wurde. Durch das Kunstprojekt „Eiserner Vorhang“ von museum in progress in der Wiener Staatsoper erhält die Brandschutzwand zwischen Bühne und Zuschauerraum noch eine weitere Funktion: Sie wird zu einer Ausstellungsfläche für zeitgenössische Kunst, die dann in Erscheinung tritt, wenn der Vorhang geschlossen ist und den Blick auf die Bühne versperrt.1 In Momenten großer Spannung und Erwartung – vor Beginn der Aufführung und in den Pausen – entfaltet der „Eiserne Vorhang“ seine sinnliche Kraft, wobei dasselbe Großbild eine Vielzahl unterschiedlicher Aufführungen begleitet und mitgestaltet. Speziell für den Publikumsraum der Oper konzipiert, wirken die Bilder als integraler Bestandteil des ephemeren Aufführungserlebnisses auf ihren Umraum und das sich darin abspielende Geschehen. Die seit 1998 jährlich wechselnden Großbilder (176 m²) werden mittels Magneten vor den eisernen Vorhang gespannt und sind für die Dauer von rund 8–9 Monaten zu sehen. Eine unabhängige Jury, die derzeit mit Daniel Birnbaum und Hans-Ulrich Obrist besetzt ist,2 zeichnet für die Auswahl der international renommierten Künstlerinnen und Künstler verantwortlich, deren Arbeiten mehr als 600.000 Opernbesucher/innen in jeder Spielzeit erreichen.

Bisher wurden die Werke folgender Künstlerinnen und Künstler präsentiert: Pierre Alechinsky, Tauba Auerbach, John Baldessari, Matthew Barney, Thomas Bayrle, Tacita Dean, Cerith Wyn Evans, Dominique Gonzalez-Foerster, Richard Hamilton, David Hockney, Christine & Irene Hohenbüchler, Joan Jonas, Jeff Koons, Maria Lassnig, Oswald Oberhuber, Giulio Paolini, Rirkrit Tiravanija, Rosemarie Trockel, Cy Twombly, Kara Walker und Franz West. 2002/2003 wurde parallel zu Wien von Elmgreen & Dragset einmalig auch ein „Eiserner Vorhang“ an der Komischen Oper in Berlin realisiert. Um dem Publikum der Ausstellung „Opéra Monde“ des Centre Pompidou-Metz zu ermöglichen, das Kunstprojekt in seiner singulären Wirkungskraft und Qualität erfahren zu können, ohne dafür nach Wien reisen zu müssen, wird das Werk „Helen & Gordon“ von Dominique Gonzalez-Foerster, das 2015/2016 in der Wiener Staatsoper realisiert wurde, für die Größenverhältnisse der Oper in Metz – dem ältesten erhaltenen Opernhaus Frankreichs – adaptiert und dort 2019 neu präsentiert.

Ungewöhnliche Präsentationsformen und -orte für zeitgenössische Kunst sind ein Credo der Kunstinitiative museum in progress, die 1990 von Kathrin Messner und Josef Ortner in Wien gegründet wurde. In Anlehnung an den „erweiterten Kunstbegriff“ von Joseph Beuys beansprucht und erweitert der gemeinnützige Kunstverein den Museumsbegriff und transformiert durch seine Aktivitäten den öffentlichen und medialen Raum in ein „Museum“ für seine Kunstprojekte. Mit Ausstellungen in medialen und öffentlichen Räumen – wie beispielsweise in Zeitungen, Magazinen, auf Plakatflächen, an Gebäudefassaden, in Konzertsälen oder im Fernsehen – integriert museum in progress Kunst in das Spannungsfeld des täglichen Lebens und erreicht durch diese Arbeitsweise ein weitaus größeres Publikum als konventionelle Museumsinstitutionen. Durch die Ausstellungsreihe „Eiserner Vorhang“ wird das Opernhaus temporär zu einem Museum und der Publikumsraum somit zu einem Ausstellungsraum für ein einzelnes Bild. Das Kunsterlebnis überrascht viele Besucher/innen, die unvermittelt von der „monumentalen Frontalität“3 der Werke in den Bann gezogen werden und deutlich mehr Zeit davor verbringen, als üblicherweise vor einzelnen Kunstwerken im Museum.

In der Wiener Staatsoper verhüllt der „Eiserne Vorhang“ nicht nur die Brandschutzwand, sondern insbesondere auch das darauf applizierte Bild von Rudolf Hermann Eisenmenger aus den 1950er-Jahren. Diesem aus gesellschaftspolitischer und kunsthistorischer Sicht äußerst problematischen Werk Eisenmengers setzt das Projekt von museum in progress die künstlerische Praxis der Gegenwart entgegen.4 Die Verhüllung seines Bilds durch die Ausstellungsreihe „Eiserner Vorhang“ soll nicht wie ein Feigenblatt die heutige Scham über das Werk verdecken, sondern dient im Gegenteil dazu, den Blick auf das Darunterliegende zu schärfen. Durch den jährlichen Wechsel des Bildes werden der Diskurs lebendig gehalten und die Blickwinkel laufend verändert und aktualisiert.5 Als Bindeglied zwischen historisch bedingten Defiziten und ihrer zeitgemäßen Aufarbeitung praktiziert die Kunstinitiative das Ausstellungsmachen somit ausdrücklich als gesellschaftspolitische Handlung.

Im Wechselspiel von Enthüllen, Verhüllen und enthüllendem Verhüllen bildet der „Eiserne Vorhang“ eine Schnittstelle zwischen darstellender und bildender Kunst, wobei die trennende Grenze zwischen den beiden Kunstgattungen als „Schwelle“ fungiert, die verbindet und Neues ermöglicht.6 Dabei wird nicht zuletzt auch die Grenze zwischen Kunst und Leben unversehens durchlässig, und es entsteht Raum für die zeitgenössische Kunst, um ihre Wirkkraft zu entfalten.

(2019 publiziert in: Opéra Monde. La Quête d'un Art Total, hg. v. Stéphane Ghislain Roussel, Centre Pompidou-Metz, Ausstellungskatalog, Paris, Metz: RMN 2019, S. 72)


1 Für umfassende Informationen zum Kunstprojekt „Eiserner Vorhang“ und den einzelnen Werken siehe: Curtain – Vorhang. Ein lebendiger Museumsraum – Der Eiserne Vorhang der Wiener Staatsoper, hg. v. Kaspar Mühlemann Hartl u. Dominique Meyer, Wien: Verlag für moderne Kunst 2017.
2 Frühere Mitglieder der Jury waren Robert Fleck, Kasper König, Akiko Miyake und Nancy Spector.
3 Cf. Bice Curiger: Monumental Frontal, in: Curtain – Vorhang, hg. v. Kaspar Mühlemann Hartl u. Dominique Meyer, 2017, S. 10.
4 Der österreichische Künstler Rudolf Hermann Eisenmenger, der bereits 1933 der NSDAP beitrat, von 1938–1945 das Wiener Künstlerhaus leitete und in dieser Zeit diverse propagandistische Bilder gestaltete, knüpfte auch nach Kriegsende beinahe nahtlos an seine beruflichen Erfolge an und erhielt nach längerem Auswahlverfahren den prestigeträchtigen Auftrag für die Gestaltung des eisernen Vorhangs im wiederaufgebauten Opernhaus. Bereits damals wurde die Wahl Eisenmengers teilweise heftig in der Presse kritisiert, allerdings nicht wegen seiner NS-Vergangenheit, sondern aufgrund seines konservativen Entwurfs. Für weiterführende Informationen siehe: Christine Oertel: Rudolf Hermann Eisenmenger und sein Eiserner Vorhang, in: Curtain – Vorhang, hg. v. Kaspar Mühlemann Hartl u. Dominique Meyer, 2017, S. 198–201.
5 Die Notwendigkeit dieses Diskurses zeigt sich auch an den Widerständen – zu erwähnen sind etwa eine Unterschriftenaktion mit rund 22.000 Unterschriften gegen das Kunstprojekt im Jahr 2002 oder eine parlamentarische Anfrage der rechtspopulistischen Partei FPÖ im Jahr 2010.
6 Der Begriff der „Schwelle“ rekurriert auf Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (Suhrkamp 2373), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 356ff.

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