Plakat 01

Augenlust/Analyse. Zu „Plakat 01“ von Gerwald Rockenschaub

Die Frage nach einer funktionalen Bindung der Kunst, die auf die Bedingungen ihres Erscheinens reagiert, stellt sich heute nicht nur in der progressiven künstlerischen Praxis sondern auch in der Finanzierung, Verwaltung und Musealisierung ihrer Produkte. Die nonchalante, aber ineffiziente Ironie, mit der etwa Marcel Duchamp das Problem der Geldbeschaffung anging, als er den weltweiten Verkauf eines magischen, heil- und schutzspendenden Dada-Amuletts vorschlug, will sich kaum noch jemand leisten, das Kunstsponsoring indes erwies sich von Anfang an als Abklatsch dessen, was in vormodernen Zeiten von Auftraggebern geleistet wurde. Herrschte damals immerhin soviel Transparenz, dass dem Künstler wie auch dem Publikum klar war, wer sich mit welchen Absichten verherrlichen lässt, so kommt das Sponsoring vor allem dem bürgerlichen Verdrängungswunsch nach, „dass im kulturellen Bereich der Markt nicht sichtbar werden darf, der ihn gleichwohl speist und trägt, sondern nur das autonome Werk“ (Walter Grasskamp). Dieser Schein von Autonomie, als dessen Garant der Appell an das Taktgefühl der Sponsoren auftritt, die Firmenlogos diskret anzubringen, büßt seine Überzeugungskraft um so schneller ein, desto unverblümter Kunst zur Bildung von Corporate Identity und Publicity dient. Wie viele andere Illusionen bürgerlichen Kulturverständnisses fällt auch die, dass die Kunst wie ein Phönix aus der Asche der Marktwirtschaft steigt, nicht antibürgerlicher Subversion zum Opfer, sondern wirtschaftlicher Eigendynamik.

Einen alternativen Versuch, Kapitalflüsse zwischen Kunst und Wirtschaft in Bewegung zu setzen, stellen die Projekte des Wiener museum in progress dar. Als neuer Museumstypus, der Kunst nicht bewahrt und aus dem Lauf der geschichtlichen Ereignisse isoliert, sondern inmitten der sozio-ökonomischen und kulturellen Prozesse der Gegenwart platziert, hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Sponsoring durch Formen der Zusammenarbeit zu ersetzen, die einerseits die Unternehmen aus der Ideologie des Gönners entlassen, indem ihre Funktion innerhalb des museum in progress offen thematisiert wird, andererseits den Künstlern die Gelegenheit bieten, der Öffentlichkeit am Beispiel eines konkreten Auftrages die Bedingungen und Möglichkeiten ästhetischer Produktion vor Augen zu führen. Ähnlich wie beim vorangegangenen Projekt Medienfenster 01, einer von Helmut Draxler kuratierten Platzierung künstlerischer Arbeiten in Printmedien (dazu Parkett 1991/29), wurden auch beim Medienfenster 02 Methoden gewählt, die dem Charakter des Mediums und den Bedingungen des Auftrags gerecht werden. Der gemeindeeigene Plakatvertrieb Gewista sagte dem museum in progress zu, zwischen Dezember und Februar 3.000 Plakatwände zu verbilligten Tarifen zur Verfügung zu stellen (eine Zahl, die sich durch den schnellen Erfolg der Aktion noch vergrößerte). Der wirtschaftliche Partner des museum in progress, die Fluglinie Austrian Airlines, finanzierte die ganze Aktion unter der Auflage, ihr Logo in die Arbeit zu integrieren.

Gerwald Rockenschaub, vom museum in progress als Künstler ausgewählt, ging vom Modulsystem der Gewista aus, wonach jedes Plakat aus bis zu 72 Standardbögen zusammengesetzt ist, und ließ Standardbögen in sieben, der Industrienorm entsprechenden Farben monochrom bedrucken. Daraus stellte er vierzig Entwürfe her, die ab September '91 in zweiwöchigem Wechsel an fünf Standorten installiert wurden – nächst der Secession, dem Museum des 20. Jahrhunderts, dem Museum moderner Kunst, der Hochschule für angewandte Kunst und dem Museum für angewandte Kunst. Womit die Aktion der Öffentlichkeit präsentiert und soweit in Bewegung geraten war, dass sie Mitte Dezember '91 – als sie sich in einem zweiten Schritt über ganz Wien auszudehnen begann – gleichsam automatisch ablaufen konnte: Von nun an wählten die Plakatierer aus Rockenschaubs vierzig Entwürfen Segmente aus, die sie je nach Belieben und nach Größe der ihnen zugeteilten Plakatwände variieren konnten, mit der – neben dem Verbot von rein monochromen Plakaten einzigen Auflage, dass das rote Plakat mit dem Logo von Austrian Airlines in der rechten oberen Ecke kleben muss.

Offensichtlich, dass es dabei weder um die Kreativität der Plakatierer ging noch um die autonomen Werte von Komposition, Farbkontrast und was sonst noch alles an Plakate erinnern mochte, die eine Version „angewandter“ geometrischer Abstraktion darstellen. Beides, die Eigenregie der Plakatierer und die geometrischen Formen, waren ebenso wie die Farbwahl und der Projektablauf strategische Mittel, die sich unmittelbar aus der Intention ergaben, durch eine möglichst präzise Manipulation der medialen Voraussetzungen eine neue Form ästhetischer Partizipation und Reflexion im öffentlichen Raum zu erproben.

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Im Versuch, den monadischen Charakter des Kunstwerks in der Partizipation der Rezipienten aufzulösen, lag einer der revolutionären Impulse der Avantgarde. Die verschiedenen Ausprägungen, die er vom Cabaret Voltaire bis zur Body Art annahm, kennzeichnete stets – zumal in Österreich – eine Ritualität, die sich gegen die distanzschaffende Hegemonie des Auges richtete und ihre Aufhebung anstrebte in einem ganzheitlichen Engagement, das verdrängte Kräfte menschlicher Körperlichkeit entfesselt. Doch sobald die Kunst Rituale inszeniert oder atavistische Bräuche nachahmt, kommt sie in eine Nähe zum Theater, die sich der Verschmelzung von Kunst und Leben widersetzt.

Rockenschaub hingegen arbeitet an einer Ästhetik der Partizipation, die, obwohl sie rituelle Momente bewahrt, sich auf jene Apologie der Visualität einlässt, die seit Baudelaire die Moderne als eine Absage an jedwede Art von Ganzheitlichkeit bestimmt. Auch heißt Ritual für Rockenschaub nie Inszenierung und Theater, vielmehr interessieren ihn jene Rituale, die die Gesellschaft gleich einer zweiten Natur determinieren. In seinen Arbeiten für Kunst-Räume reagiert er daher auf das sozialen Verhalten, das die Kunstszene definiert, im öffentlichen Stadtraum jedoch auf dasjenige, das vom breitesten Konsens getragen wird – auf den Massenkonsum, wie ihn die Plakatwerbung propagiert.

Deren Strategien bedingen und festigen jene Erfahrungsweise, die moderne Urbanität charakterisiert: die mobile Visualität. Schon Anfang dieses Jahrhunderts erkannte Georg Simmel, daß sich „Großstädte durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs auszeichnen.“ Richard Senett hat die historische Entwicklung, an deren Ende das politische, soziale und emotionale Schweigen in den Metropolen steht, als eine Geschichte des Verfalls von Öffentlichkeit beschrieben, die Hand in Hand ging mit der Verengung öffentlicher Erfahrung auf das Sehen und mit der Instrumentalisierung des Stadtraumes im Namen der Fortbewegung. Kunst im öffentlichen Raum verdankt ihre gegenwärtige Verbreitung wohl auch der Hoffnung, dass der Künstler durch die von ihm geforderte subjektive Selbstentäußerung „eigentliches“ Leben in die Anonymität der Städte bringt. Folgt man Senetts These, dass es gerade die Psychologisierung von Öffentlichkeit war, die deren Verfall beschleunigte, dann erweist sich diese Hoffnung nicht nur als trügerisch, sondern sogar als kontraproduktiv.

So richtig Senetts Zeitdiagnose scheint, so wenig muss man seine nostalgische Grundannahme teilen, die die Maßstäbe urbaner Kultur in das Paris und London des 18. Jahrhunderts oder in die antike Polis zurückverlegt. Wie sich die Hegemonie von Visualität und Mobilität zu einer Verdichtung urbaner Erfahrung transformieren lässt, kann man gerade am Beispiel von Rockenschaubs Plakataktion diskutieren. Nicht das Auftrumpfen künstlerischer Individualität setzte den öffentlichen Raum unter Spannung, sondern ihr Aufgehen in der Anonymität massenmedialer Kommunikation. Diese Anonymität ist allerdings schon längst nicht mehr der Bewegungsraum des „Flaneurs, der auf dem Asphalt botanisieren geht“ (Walter Benjamin); anstelle einer Neugier, die die Verlorenheit und Gelassenheit des Flaneurs voraussetzt, ist ein systematisches Wegschauen getreten, dessen Protagonist der Passant ist und dessen Ursache in der Verarmung genuin öffentlicher Ausdrucksmöglichkeiten liegt – wogegen die Kunst auftritt, wenn sie den öffentlichen Raum als gesellschaftliches Kräftefeld begreift, das man weder dem Verschwinden noch der Nostalgie preisgeben darf.

Als im September '91 die ersten fünf Plakatwände aufgestellt wurden, schien die Aktion allein auf den Kunstrezipienten zugeschnitten: Die kunstnahen Standorte wiesen die Plakate als „Künstlerplakate“ aus, denen man sich mit dem hermeneutischen Instrumentarium des Insiders nähern durfte, um Komposition, Farbkontrast und Proportion auf ihre Prägnanz und Innovationskraft zu prüfen. Die Epigonen geometrischer Abstraktion konnten angesichts des (durchaus richtigen) Eindrucks maschineller Fertigung nur eine Parodie auf ihre Ideale vermuten – erst Mitte Dezember, da Rockenschaubs Kunstmaschine auf Hochtouren lief und Plakate über ganz Wien verteilte, offenbarte sich der eigentliche Zweck der bunten Geometrie: effizienter als aus jedem anderen Formen- und Farbrepertoire lässt sich daraus eine Serie von Bildern generieren, in der Grundmuster und Variation, Identität und Differenz gleichermaßen augenfällig sind. Die bunte Geometrie gewinnt somit eine zeitliche Dimension, wird zur epidemischen Wiederkehr von Ähnlichkeiten und Unterschieden, die, indem sie zur Deutung herausfordern, einen Prozess des Suchens, Entdeckens und Enträtselns in Gang bringen, der Momente dekadenter Augenlust, wie sie Baudelaires Peinlre de la vie moderne verkörpert, in die Dynamik der spätmodernen Stadt einschleust. Egal ob Spaziergänger in der Innenstadt oder suburbaner Verkehrsteilnehmer, der mobile Städter trifft allerorts auf Signale, die ihn dazu auffordern, durch distanzierte Beobachtung Partizipation zu schaffen und durch Anonymität Subjektivität.

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In rezeptionsästhetischer Hinsicht konnte das Konzept allerdings nur aufgehen, weil die Auftragsbedingung, das Logo in die Arbeit zu integrieren, zu einer Durchdringung von Kunst und Werbung führte. Die Aktion begann zwar an fünf kunstnahen Plakatwänden, allmählich jedoch, mit der beginnenden Ausbreitung über ganz Wien, verloren diese ihre definitorische Macht über die wachsende Überzahl jener, deren Funktion allein durch das Logo bestimmt war, das im rechten oberen Eck gleichsam den Kulminationspunkt des Farbmusters markierte. Was manche Kunstfreunde für eine ökonomisch bedingte Not hielten, daraus machten Rockenschaub und das museum in progress eine rezeptionsästhetische Tugend: Die funktionale Bindung an die Werbung stellte die Aktion in einen Rahmen, der weit mehr öffentliche Partizipation in Aussicht stellt als ein vordergründiger Kunstanspruch. Gibt sich das Plakat nämlich als Werbung zu erkennen, so verschwindet das Stigma der Unverbindlichkeit, das der Kunst in einem von ökonomischen Interessen und Zwecken dominierten Raum anhaftet. Da die Forderung der 70er und 80er Jahre nach „site-specific art“ im öffentlichen Raum so konsequent umgedeutet wird, dass die Kunst in einem ihr fremden Kontext aufzugehen scheint, stehen die Passanten ästhetischen Problemen gegenüber, denen mit dem üblichen Hinweis auf die Hermetik zeitgenössischer Kunst nicht beizukommen ist. Geben sie doch vor, am kollektiven, von der Werbung konstituierten Sinnzusammenhang teilzunehmen und dessen spezifischen, nicht weniger kollektiven Sehgewohnheiten und Auslegetechniken zugänglich zu sein. Jean-Christophe Ammanns These, dass „Kunst im öffentlichen Raum dann am wirksamsten ist, wenn sie gleichzeitig künstlerisch gut gelöst ist und nicht als Kunst auftritt, sondern sich unterhalb dieser Wahrnehmungsschwelle ansiedelt“, erhält hier eine unerwartete Aktualität.

Rockenschaubs künstlerische Intentionen widersprachen der funktionalen Bindung an die Werbung keineswegs, sie unterstützten vielmehr deren Effektivität durch einen Plakatentwurf, der sich deutlich von der Masse der Plakate unterschied. Gleichzeitig aber, da dieser Entwurf sich im Kampf um die Aufmerksamkeit der Passanten behauptete, stellte er die Dynamik der Partizipation durch eine Analyse des Plakates als Kommunikationsmedium in Frage. Möglich wurde diese intellektuelle Brechung der Augenlust durch die explizite Aneignung des Bogensystems der gemeindeeigenen Werbefirma Gewista.

Jahrzehnte vor den elektronischen Massenmedien griff die Verbreitung des Plakates in die von Senett beschriebene Entwicklung ein, die den öffentlichen Raum von einem politisch-sozialen Interaktionsfeld in eine erfahrungsarme Durchgangszone verwandelte, die nur mehr zwischen distinkten Intimsphären vermittelt Erfahrungsmöglichkeiten, die die Instrumentalität dieser Durchgangszone transzendieren, bietet allein das Plakat, das gleich einem Altar die Heiligtümer der Warenwelt präsentiert. Gegen den viel zitierten Wirklichkeitsverlust durch die Allgegenwart medialer Bilder wetterte Karl Kraus bereits Anfang des Jahrhunderts, wenn er mit polemischer Ironie fragte: „Gibt's denn ein Leben außerhalb der Plakate?“.

Mit gleichem Recht jedoch könnte man die vom Plakat geschaffenen Formen öffentlicher Erfahrung als Agens der modernen Kunst zelebrieren. In diesem Dilemma nimmt Rockenschaubs Plakataktion nicht für eine der beiden Alternativen Stellung, sondern für das Dilemma als solches. Mit der Aneignung des Bogensystems entstehen Plakate, die ihren eigenen Aufbau offenlegen, mit der Ausdehnung über Wien mutiert die ganze Aktion zur Offenlegung der Strategie, die den Erfolg der Werbewirtschaft ausmacht: Die Frequenz ist die Botschaft. Im Gegensatz zu den Werbeplakaten, die ihre Teile zu ganzen Bildern zusammenfügen, die ihrerseits wieder in der Bilderwelt der urbanen Umgebung verschwinden, sorgen die in ihre Teile zerlegten und als variable geometrische Konfigurationen erscheinenden Plakate Rockenschaubs für das Sichtbarwerden jener Struktur, die die Effizienz des Mediums bestimmt, sei es als Einzelbild oder als Bildkampagne. Wodurch die Verführung zur Analyse ihrer eigenen Funktionsweise wird: Wie die wienweite Augenlust die Stadtbewohner mit sinnlichen Energien versorgt, um sie zur Partizipation herauszufordern, so klärt der metaphorische Gehalt, der der Konstruktionsweise des Plakates innewohnt, über die kommunikativen und sozialen Bedingungen auf, die den sinnlichen Energien vorausgehen.

(Wien, 1992)

 

 

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