kanon kann's
„In einem klassischen Apolog von Zeuxis und Parrhasios gelingt es Zeuxis, Trauben zu verfertigen, die selbst Vögel zu täuschen vermögen. Wichtig dabei ist aber nicht, dass diese Trauben perfekte Nachahmungen von wirklichen Trauben dargestellt hätten, wichtig ist, dass sogar Vogelaugen sich täuschen ließen. Das zeigt sich, als Zeuxis' Gefährte Parrhasios über ihn den Sieg davonträgt, weil er auf eine Mauer einen Schleier malt, so täuschend, dass Zeuxis sich mit der Bitte an ihn wendet, er möge ihm doch zeigen, was dahinter gemalt sei. Es geht also eigentlich um die Täuschung des Auges. Über das Auge triumphiert der Blick.“
Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Berlin 1987, 109.
I) Die Proportionenlehre des Westens, der Kanon, also die Richtschnur, das Maß des Körpers, scheint geometrisch wie chronologisch linear: Der Körper wird vermessen und drastisch in ganzzahlige Brüche zerlegt. Mit dem Kopf als Maßeinheit ergibt sich 2 Köpfe bis zu den Brustwarzen, drei Köpfe bis zum Nabel, 4 Köpfe bis zum Geschlecht und 7 Köpfe bis zur Ferse; eine interessante Varianz bietet der Proto-Manierismus Michelangelos: 6 Kopf bis zum Knie, 8 bis zur Ferse. In jedem Falle finden wir statische Fixierung auf die Architektur des Körpers, einen Kanon, der meilenweit von der dynamischen Meridiantopologie asiatischer Traditionen entfernt und keineswegs in der Lage ist, Ästhetik mit Therapeutik zu vereinen.
Und historisch von den Griechen zu den Römern, über die Renaissance zu den Phrenologien und Typologien des 18. und 19. Jahrhunderts landet die klassische Linie zunächst, daran erinnern wir uns noch schwach, bei der athletischen Militanz moderner industrialisierter Imperien (1). Schon in jede Sehgewohnheit eingesunken wird nun das Körperschema in Bewegung versetzt. Im post-riefenstahlschen Fernsehen der sechziger und siebziger Jahre sahen wir dann die zwei post-faschistischen Erben des griechischen Athleten, US-Amerikaner und Sowjet-Russen, am Reck und auf der Aschenbahn einander Duelle liefern. Das Medium und der Sport, zunächst die zum Schein neutrale Arena der Ideologiekonkurrenz, sind nunmehr nur noch Material für das letzte Imperium. Und es schlägt zurück. Die Proportion wird einmal noch, zum letzten Mal, dem lebenden Modell abgenommen, dann aber als bewegliches Koordinatennetz, jetzt Bewegung ohne Körper, der Rechenmaschine eingegeben.
„Ahmed Best, der ‚unsichtbare’ Star von ‚Star Wars’“ war im Standard ironischerweise ein „Kopf des Tages“:
„Dabei ist er nicht einmal physisch auf der Leinwand zu sehen, wenn eine tollpatschige Mischung aus Fisch, Frosch, Hase und Mensch, genannt Jar Jar Binks, durch Episode I – Die dunkle Bedrohung stolpert. Best, 25 Jahre jung und zuletzt Tänzer und Schlagwerker für die new Yorker Stomp-Truppe, hat dieser neuen Kreatur im Star-Wars-Universum nämlich nur die Stimme geliehen und – der Computer macht's möglich – seine Bewegungen.“ (2)
1) George L. Hersey: The Evolution of Allure, MIT, 1996; dt: Verführung nach Maß, Ideal und Tyrannei des perfekten Körpers, Berlin, 1998 2) Standard, 21/22.08., 32
II) Der Körper auf der Bühne, als dreidimensionaler Organismus, geht mit seiner Umgebung eine spezielle Beziehung ein. Auffallend ist hier die relationale Definition von Größe. Die eingenommene Raumeinheit steht in fester Proportion zum Raum und zu anderen Körpern, die Kleinen sind klein, d.h. kleiner und die Großen groß, d.h. größer. Die Erscheinung des Körpers auf der zweidimensionalen Fläche geht von der Malerei über die Photographie bis zum digitalen Bild den Weg der Manipulierbarkeit, fest bleibt der Umriss, der „contursimo“, abendländischer Fetischismus von der griechischen Plastik bis zur Architektur. Der ragende phallische Körper soll bis ins Kosmische seine gänzliche Unabhängigkeit von jeder Umgebung versprechen. Oder auch: Er passt in jede Welt. Die Ironie dieser Erfolgsgeschichte: Nunmehr lässt sich jeder Körper in jeden virtuellen Raum einkopieren. Der digitale Pinsel liefert dann mühelos die Umgebungsfaktoren: Ein bisschen lebendiges Pixel-Chaos und ein paar Schatten da, wo keine Sonne mehr hinscheint. Hat es nicht mitunter was Ekelhaftes, wie „malerisch“ es zugeht bei den Graphikprogrammen?
III) Die Werbefläche ist ein komischer Platzhalter für den kollektiven Raum des Tausches. Auf ihr erscheint der ganze Kanon visueller Medien, gewöhnlich mit Inhalten erfüllt, die stets etwa einer technisch-medialen Revolution hinterdreinhinken, um für die neueste technisch-mediale Ware zu werben. Derzeit treffen wir auf ein Photographiemuseum, und noch dazu wird Photo wieder, oder erstmals, Malerei. Wie die Leinwand Hollywoods simuliert die Werbefläche die Demokratisierung westlicher Beutezüge: Wir können jede historische oder geographische Kulturfolie benützen und jedem zugänglich machen. Im Durchtesten aller möglichen Kanonices erweist sich dafür Körper und Ware als gleichermaßen standardisiert, für die Ware tat dies die industrielle Produktion, für den Körper der oben erwähnte Kanon der Proportion.
Psychoanalytisch betrachtet hat die schlanke Proportion des bislang kanonisch weiblichen Werbekörpers seine eigene fetischistische Pointe; da nur die Binnenproportionen bedeutsam sind und jeder visuelle Indikator von Gewicht und Erdenschwere tabuisiert ist – inhärente Anorexie des digitalen Bildes – könnte dieser einkopierbare Fetischkörper stets ebensogut das ragende Monument der phallischen Mutter wie das masturbartorische Spielobjekt der kleinen Puppe sein. (1)
Und mit der Austauschbarkeit dieser zwei Extreme spielt ja die Austauschbarkeit von Ware und Körper (2), ohne sie je als solche zu zeigen. Denn auf der standardisiert riesigen Werbefläche kann alles Monumentale auch die fetischistische Großaufnahme eines Kleinen sein.
1) Otto Fenichel: Die symbolische Gleichung Mädchen = Phallus, IZfPA XXII (1936) bzw. Aufsätze II, Olten, 1981. 2) Pierre Klossowski: Die lebende Münze. Übers. Martin Burckhardt, Berlin, 1999.
IV) Diese hybride Bespielung einer Werbefläche zeigt uns nackt nicht die Körper als vielmehr ihre Auslieferung an einen ihnen selbst unbetretbaren, da bloß programmierter Raum. Anders als die Papppuppen, die man verschieden anziehen konnte, könnte man diesen Typen verschiedene Räume anziehen. Aber dazu geht von ihnen selbst eine enorme Unlust aus. Für eine genüssliche Inversion der Bathseba-und-Diana-Typik kommt die Sache leider zu spät. Die von einer Magritte'schen Lady beäugten Herren, einer eher athletischen, einer leptosomen Typs (sehr passend auch der Athlet in Jeansblau, der Leptosom in Anzuggrau), scheinen über jedes kanonische Maß hinaus verlegen. In Verlegenheit gebracht durch ihre unpraktische Größe auf planer Fläche.
So bleibt nur die Kombinatorik eines Palimpsests verschiedener Schichten visueller Mediengeschichte. Und so was wie ein trotziges Versprechen, das wohl erst die Rezeption zu entschlüsseln hätte:
Sich von den kanonischen Zumutungen der standardisiert monopolaren Weltökonomie durch verfeinerte, je kollektivere, je progressivere, je historistischere Technologie allmählich zu befreien. Und sei es unter der Nominaldefinition der Kunst.
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36/39), GS I.1