Eiserner Vorhang 2018/2019

Ein Moment der Verlangsamung

Pierre Alechinsky: Als ich das Bild gemacht habe – ich wage kaum, es den Wienern zu sagen – war es für mich eine Erinnerung an den Atlantikwall. Das Meer bedeutete, denjenigen zu erwarten, der vom Meer kommt.

Hans-Ulrich Obrist: Das ist faszinierend, eine mögliche Lesart.

PA: Für mich gibt es keine andere.

HUO: Wir haben hier also den Altlantikwall und …

PA: … den Horizont, das Meer.

HUO: In Österreich gibt es wie in der Schweiz freilich kein Meer, da verstellen die Berge die Sicht auf das Meer.

PA: Die Welle im Bild zeigt eine natürliche Bewegung. Abgesehen von einer Stelle kann man sich darin einen Kopf vorstellen, einen Mund, zwei Augen – in einem Sekundenbruchteil.

HUO: Ein Gesicht.

PA: Ja, ein verborgenes Gesicht. Aber ich verlange von den Betrachtern nicht, dass sie es entschlüsseln, es gibt viele Menschen, die das Gesicht nicht sehen.

HUO: Sie werden jedoch lange davor sitzen bleiben: Hunderttausende Personen werden im Verlauf eines Jahres eine halbe Stunde davor sitzen, sie werden die Dinge daher zwangsläufig sehen. Sie werden mehr Zeit davor verbringen als vor einem Bild in einem Museum.

PA: Hier sind sie zum Betrachten verurteilt.

HUO: Sie werden vieles sehen, sie können eine Mauer sehen, ein Gesicht und es gibt die Welle. Dies alles bewegt sich um Ecken, hat Höhen und Tiefen, Intervalle, Pausen und Stille. Und dann gibt es noch eine interessante Umrandung.

PA: Die Umrandung mit dieser Strichelung, der Spur des Pinsels, beruht auf strategischen Überlegungen und soll die Zeit der Betrachtung verlangsamen. Dadurch, dass die wesentlichen Striche des Bildes isoliert werden, kann man die unterschiedlichen Geschwindigkeiten erkennen. Man sieht gut, dass manche Pinselstriche sehr schnell entstanden sind, und andere zweifelsohne mehr Überlegung verlangten. Aber das ist nur erkennbar, wenn es einen Moment der Verlangsamung gibt. Ich verwende diese Methode nahezu systematisch.

HUO: Die Strichelung ist also ein Moment des Verlangsamens.

PA: Ja, um die Lesbarkeit der wesentlichen Linien zu ermöglichen.

HUO: Manchmal sind es Striche, manchmal Kreuze.

PA: Das entsteht durch das Heben des Pinsels. Ich habe diese Form in einer Zeichnung von Hans Arp wiedergefunden. Arp hat seinen Pinsel angehoben, wie man es im Fernen Osten lernt, wo jeder unterschiedliche Pinselstrich eine eigene Bezeichnung hat.

HUO: Ich mag die Idee der Absenz der Farben.

PA: Man muss sagen, dass die vorherrschende Farbe in der Oper nicht sehr verführerisch ist.

HUO: Es ist sehr barock.

PA: Das Orchester ist das eigentliche Werk hier. Etwas davon entfernt gibt es allerdings eine Fülle von Farben: Ich habe mir gesagt, dass die Farben die elegant gekleideten Damen sind. Gleich wird das Publikum in das Schwarz eingetaucht, und die Farben werden die Bühne und die Kulisse sein.

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