Eiserner Vorhang 2018/2019

Loin d'ici – Weit weg von hier

Der eiserne Vorhang im Theater ist eine bemalte vertikale Fläche, die das dahinter stattfindende Treiben vor den Blicken verbirgt. Er bietet dem Publikum ein unbewegtes Spektakel, bis das eigentliche Spektakel, weswegen das Publikum gekommen ist, beginnt. Der Bühnenvorhang hat zwei Funktionen: Er zeigt und er verbirgt. Und er hat auch noch eine dritte: Er vertröstet. Er lädt auf eine Reise ein. Er bringt Ruhe in das Treiben der Zuschauerinnen und Zuschauer, die im hell erleuchteten Theatersaal Platz nehmen, dabei nach Bekannten Ausschau halten und diese von weitem begrüßen.

Der Vorhang von Pierre Alechinsky setzt einen Kontrapunkt. Nüchtern und schwarz-weiß, bildet er einen Kontrast zum Prunk und den Lichtern des Saals mit dem elegant eingekleideten Publikum und den Liebenswürdigkeiten, die aus der Entfernung ausgetauscht werden. Er bildet einen Horizont, einen leeren Horizont, der nicht mit der gerade dahinter in Vorbereitung befindlichen Handlung in Konkurrenz tritt. Einen Meereshorizont, in den von rechts nach links, von Osten (von der „Hofseite“)* nach Westen (zur „Gartenseite“)* aufziehende Sturmwolken hineinragen. Dieser von der malenden Hand erzeugten Bewe¬gung antwortet ausgleichend, von links nach rechts, die gegenläufige Geste einer großen Welle im unteren Bereich des Vorhangs. Eine Welle, die sich erhebt, ihren höchsten Punkt erreicht und uns dann mit sich fortträgt in ihr Tal. Dieses ausgeprägte Gespür für seitliche Bewegungsverläufe ist eines der Markenzeichen Pierre Alechinskys, der von Natur aus Linkshänder ist. Man hat ihn im Schulalter, als er das Schreiben erlernte, zwar umgepolt, doch hat er sich in seinem Schaffen als Maler deutliche Spuren davon bewahrt: Gezwungenermaßen schreibt er mit der rechten Hand von links nach rechts. Es ist sehr wohl zu spüren, dass sie, wäre sie frei, die andere Richtung wählen würde. Beim Malen aber nimmt er die Linke, ohne soziale und physische Einschränkungen. Die schreibende Hand hat es schwer. Es ist die malende Hand, die träumt, tanzt, sich dreht und wendet und eine Sprache erfindet.

Loin d’ici lautet der Titel. Es ist die Einladung zu einer Reise. Der Meereshorizont ist ein wiederkehrendes Thema im Schaffen Pierre Alechinskys, vor allem seit seinem mit La Mer noire [Das Schwarze Meer] betitelten großformatigen Bild, das 1988 in Erinnerung an seinen aus Odessa stammenden Vater entstanden ist. Der Künstler hat das Thema für seine Illustrationen des Gedichts Le Volturno von Blaise Cendrars wieder aufgenommen. Die Volturno war ein kanadischer Ozeandampfer, der zwischen Rotterdam und New York verkehrte. Im Jahr 1913 versank er nach einem Brand im Meer. Für dieses Buch zeichnete Alechinsky Meereshorizonte mit der fernen Silhouette eines Schiffs, von dem Rauch aufsteigt. Wie in der berühmten Arie der Madame Butterfly:

Un bel di, vedremo
Levarsi un fil di fumo sull’estremo
Confin del mare
E poi la nave appare…

Eines schönen Tages werden wir,
Einen Rauchfaden an der fernen Grenze
Des Meeres aufsteigen sehen,
Und dann erscheint das Schiff…

Diesen Lockruf des Meeres, diesen Sturm hat Pierre Alechinsky gewählt, um damit die Oper zu evozieren. Still und leise wie Rauch haben sich die hohen Wogen der Streicher und das Rauschen der Blechbläser schon eingefunden, bald wird sich eine glasklare Stimme erheben. Die wendige Linie Alechinskys ist zu einem guten Teil seiner Vertrautheit mit der fernöstlichen Kalligrafie geschuldet. Bereits 1955 brach er an Bord eines Frachters nach Yokohama auf, in Tokio und Kyoto realisierte er einen Film über die japanische Kalligrafie. Seit Langem sind seine Arbeitswerkzeuge der japanische Schreibpinsel und große Blätter Reispapier aus China.

In der schwarzen Landmasse, die sich vom Meer abhebt, ist ein rätselhafter Einschnitt zu erkennen, umgeben von flimmernden kleinen, mit der Spitze gesetzten Pinseltupfern. Wir wissen darüber nicht mehr, als dass es sich um ein Zeichen oder ein Merkmal handeln könnte, dessen Bedeutung möglicherweise die Psychoanalyse in der Lage wäre zu entschlüsseln. Wäre dafür nicht die Heimatstadt Sigmund Freuds der ideale Ort?


* „Côté cour“ und „côté jardin“ sind im Französischen verwendete Begriffe für die Bühnenseiten.

 

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