Teheran (09.05.1993)

Der Standort macht die Perspektive

Durch das Erleben vor Ort tritt die Realität des Vorgestellten mit der physischen Wirklichkeit in eine eigendynamische Relation und ist bestenfalls kohärente Harmonie, meist aber Dissonanz oder gar Widersprüchlichkeit ausgesetzt. Manchmal erscheint das Vorgestellte vor der Leibhaftigkeit der Wirklichkeit belanglos. Eine künstlerische Arbeit zur islamischen Bildwelt in Bezug auf den westlichen Kunstbegriff erschien mir vor dem Hintergrund der überaus problematischen Situation in der Islamischen Republik Iran als nicht entsprechend.

Auch wenn die Bezüge zwischen Ethik und Ästhetik zu Recht umstritten sind, so werden sie dennoch insbesondere vor dem Hintergrund totalitärer Regime unweigerlich aktuell und relevant.

Geht man aber einen Schritt weiter und fragt nach motivierenden Bildwelten, die am Phänomen anschaulich werden, so ist man inmitten des virulenten Spannungsfeldes: Hin- und hergerissen zwischen der Nachahmung westlicher Wohlstandszivilisation und der Nachahmung der eigenen Geschäfte haben sich in der islamischen Welt diverse Formen der Identitätsbehauptung innerhalb der europäisch – amerikanisch dominierten moderne manifestiert.

Der westlichen, religiös indifferenten bis erklärtermaßen atheistischen Weltauffassung, die im Zuge der aufgeklärten Idee die religiös-ganzheitlich begründete Vorstellung vom Menschen zugunsten der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums nivelliert hat, steht die nach wie vor religiös verwurzelte, alle Bereiche des Lebens umfassende Weltvorstellung entgegen, die den Menschen als Teil der Gemeinschaft aller Gläubigen begreift, in der er schlußendlich allein Allah verpflichtet ist.

Doch das Problematische im Umgang mit der Idee, als gedanklichem Urbild oder Leitbild, dem Ideal, bezogen auf ein Menschen- oder Weltbild, als einer fiktiven „optimalen Totalität“ einer Idee, und der Ideologie (Lehre von den Ideen) in der Praxis einer weltanschaulichen Konzeption, die dem Erreichen politisch-wirtschaftlicher Ziele dient, und im Zuge derer mit unbedingten Mitteln bedingtes Leben in wiederum unbedingte formale Wirklichkeit gepreßt wirt, ist ein kulturunabhängiges, strukturell immer gleichgeartetes Phänomen.

Da Vorstellung und Wirklichkeit auf verschiedenen Ebenen zusammenhängen, einerseits, weil Vorstellung bereits wirklich ist, andererseits, weil Wirklichkeit im Phänomen und in der Rezeption von Vorstellung durchdrungen ist, stellt sich das Problem der Relativität einer jeden Vorstellung und Wirklichkeit im Widerspruch zur Ausschließlichkeit des Augenblicks subjektiven Vorstellens und Erlebens. In der Ideologie wird dieser Widerspruch gewaltsam unterdrückt, und das Einseitige erhält eine Zeit lang die Vorherrschaft über alles Relative.

So wie die Freiheit des aufgeklärten, selbstverantwortlichen Menschen in der kapitalistisch durchorganisierten Industriegesellschaft am Funktionalismus derselben zur puren Fiktion wird, so macht die fast westlich anmutende, rationalistisch wortwörtliche Auslegung des Koran im Zuge islamischer Fundamentalismusbewegungen die Freiheit des Geistes in der religiösen Idee zum Zwang der Ideologie.

Das Andere ist, so gesehen, nur Variante eines strukturell immer Gleichen.

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