menschlich

„menschlich“ von Christian Boltanski

Eine raumfüllende Arbeit von Christian Boltanski wurde in Österreich erstmals 1978 in der Wiener Galerie nächst St. Stephan ausgestellt. Ich hatte damals die Ehre, das Foto-Fries nach Paris zurückzubringen, da sich in Wien kein Käufer dafür interessiert hatte. 1995 stand die erste Museumsausstellung von Christian Boltanski in der Kunsthalle Wien an. Ganz zufällig sprach ich zum ersten Mal seit 1978 wieder mit dem Künstler. Was Boltanski damals in Paris sagte, zeigt besser als jedes andere Zitat den Status von museum in progress: „Ich fahre jetzt nach Wien, meine erste Ausstellung in dieser Stadt. Was Wien nicht alles bedeutet! Toni Stooss ist sehr zu achten. Die Bedingungen sind korrekt. Ich muss gestehen, die Ausstellung selbst interessiert mich nicht recht. Im weißen Kubus, dem Inneren der Kunsthalle Wien, was soll ich da anderes machen als bisher in Ausstellungen? Eine weitere Ausstellung. Das Konzept der Ausstellung selbst läuft sich tot. Aber diese Geschichte, museum in progress, interessiert mich sehr. Das museum in progress hat mir angeboten, eine Arbeit für die gesamte Fassade der Kunsthalle zu machen. Das interessiert mich viel mehr als meine Ausstellung, so paradox es klingt.“

In Wien angekommen, entschied Christian Boltanski, die Fassade der Kunsthalle Wien nicht zu bespielen. „Das ist eine homogene Riesenfläche, das ist wirklich eine Aufgabe für Maler. Wir besprachen uns daraufhin mit museum in progress, und diese unglaublichen Leute haben mir umgehend regelmäßige Schaltungen in Fernsehen und in Tageszeitung verschafft – in Paris wäre das undenkbar; diese Beiträge waren meine eigentliche Ausstellung in Wien.“

Im medialen Raum, den museum in progress organisierte, hat Christian Boltanski eine zentrale Arbeit seines eigenen neueren Werks veröffentlicht. Grundlage sowohl der Tageszeitungs- als auch der TV-Arbeit ist ein Klassenfoto aus einem Wiener jüdischen Gymnasium der Zwischenkriegszeit. Der Leser und der TV-Zuseher nahmen nur die Information wahr, dass nach einem einzelnen Schüler des Wiener Zwi Perez Chajes Gymnasiums aus dem Jahr 1931 gesucht werde. „Sollten Sie wissen, was aus ihm geworden ist, schreiben Sie an: Christian Boltanski, museum in progress. Fischerstiege 1, 1010 Wien“.

Zum bislang einzigen Mal in seiner künstlerischen Laufbahn konnte Christian Boltanski sein Werk in Form einer Medienkampagne realisieren. Boltanski hat die Schaltungen in der Tageszeitung und im Fernsehen zugleich neutral und aufmerksamkeitserzeugend gehalten. Im TV herrschte beispielsweise während der Zoom-Einblendung des betreffenden, unscharfen Einzelporträts Tonstille – Boltanskis Kurz-Spot für den ORF ist ein Paradebeispiel gekonnten Medieneinsatzes durch zeitgenössische Künstler.

Die Reaktionen auf Boltanskis Arbeit im Österreichischen Fernsehen waren gleich null. Auf die entsprechenden Schaltungen im „Standard“ aber reagierten Leser über den Erdball. Insgesamt gingen rund 150 Briefe und Karten ein. Das erste E-Mail ans museum in progress kam aus New York, der Absender sagte: „Sie suchen nach einem Jugendfreund von mir, der lebt in Jerusalem“. Telegramme kamen aus Israel. Man kenne diesen oder jenen der Gesuchten. Zwei Drittel der Abgebildeten auf dem Klassenfoto des Zwi Perez Chajes-Gymnasiums konnten durch die Arbeit Boltanskis identifiziert worden. Kein einziges Wiederauffindungs-Schreiben kam aus Österreich.

Ein Jahr danach traf ich Christian Boltanski wieder in Paris, für ein Zeitschrifteninterview. Ich erzählte ihm die Geschichte von den Reaktionen auf die museum in progress-Schaltungen, mit dem Zusatz: Keine der Personen, die auf die Vermisstenmeldung reagiert hatte, hatte verstanden, dass es sich um ein Kunstwerk handelte; aber die große Masse der Einsendungen an museum in progress war antisemitisch, und alle diese Autoren hatten bei voller Namensnennung und Zusätzen wie „Judenschwein“ und „Du gehörst ins KZ“ verstanden, dass Boltanski ein Künstler ist und dass die Einschaltungen im ORF und im „Standard“ Kunstwerke waren. Boltanski sagte damals, es störe ihn nicht, wenn die Leute nicht verstünden, was er beabsichtige.

Für mich bleibt aus dieser Erfahrung, dass Christian Boltanski, dessen Arbeit ich 1978 gewissenhaft nach Paris zurückführte, 1996 ohne gerichtliches Einschreiten in Österreich einer antisemitischen Propaganda ausgeliefert war, sobald er den leisesten Kommentar abgab. Im Dossier des museum in progress befinden sich Dutzende neonazistische Morddrohungen, ohne dass die österreichische Justiz dies für protokollierenswert erachtete. Auch dies gehört zu den österreichischen neunziger Jahren.

(1999)

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