Über Österreicher und andere Künstler
Robert Fleck: Sie haben sich 1991, anläßlich des 700 Jahres-Jubiläums der Schweiz, zum ersten Mal an eine „Nationalausstellung“, eine umstrittene Gattung, herangewagt. Sie hieß „Visionäre Schweiz“. Nun organisieren Sie die große Ausstellung zur 1000 Jahre-Feier in Österreich, mit mehr als 1600 Werken. Gibt es ein „Visionäres Österreich“?
Harald Szeemann: Ich hatte bereits 1973, ganz zu Beginn meines Projekts des „Museums der Obsessionen“, der Berliner Akademie der Künste ein Ausstellungskonzept mit dem Titel „Von der Freudschen Couch zur Österreichischen Exilregierung in Berlin“ vorgeschlagen. Aber ein solches Vorhaben schien damals zu avantgardistisch.
RF: Die „Österreichische Exilregierung“ war von emigrierten Protagonisten des Wiener Aktionismus proklamiert worden, vor allem von Günter Brus, Hermann Nitsch und Oswald Wiener. Der Aktionismus bildet auch nun in Ihrer Präsentation der österreichischen Ideengeschichte einen Schlüsselpunkt, wird aber in der Ausstellung eingebunden und relativiert?
HS: Friedrich Heer schrieb noch 1974 beim Erscheinen der deutschen Erstausgabe von William M. Johnstons „Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte“ von der Entdeckung eines selbst den Österreichern unbekannten Kontinents im Geistes- und Kulturleben. Unterdessen hat Österreich seine Geschichte und Kunst zu Selbstfindung und Eigenwertbestätigung formuliert und exportiert. “Wien um 1900“ war überall – in Wien, Paris, New York, Madrid, Hamburg – ein besucherträchtiges Ausstellungsereignis. Es kann daher in „Austria im Rosennetz“ nicht darum gehen, das alles nochmals chronologisch zu wiederholen. Es geht um eine „visionäre“ Synthese, die auch mit nunmehr „klassischem“ Material arbeitet, aber es anders einsetzt, von der Rändern her oder zu den Rändern hin – a-zentrisch, a-historisch, dem Quell der Kreativität nahe. Dieses Land besitzt einen außergewöhnlichen kulturellen Reichtum, der ebenso aus dem Kaiserreich kommt wie aus der Wiener Jahrhundertwende und dem Aktionismus.
RF: Sie sprechen seit 1973 vom „Museum der Obsessionen“. Thematische Ausstellungen und selbst Nationalausstellungen seien aus diesem Prinzip heraus wieder machbar.
HS: Für mich ist das Museum nicht mehr der zweideutige Ort, wie in der Museumskritik der späten sechziger Jahre. Sondern der Ort, wo Fragiles aufbewahrt und neue Zusammenhänge ausprobiert werden können, wo zahlreiche, aus diversen Quellen genährte Spekulationen nach einer Visualisierung ringen. Obsession bedeutet in diesem Rahmen nicht mehr den negativen Begriff des Besessenen, oder die stets drohende Verhärtung im Individuationsprozeß nach C.G. Jung, sondern eine freudig bejahte Energieeinheit, die sich nicht darum schert, ob sie gesellschaftlich positiv oder negativ, schädlich oder nutzbringend wirkt. Diese Ureinheit an Energie treibt den primären Obsessionellen, den „Spinner“, ebenso an wie den sekundären Obsessionellen, den Künstler. Es geht mir um eine Kunstgeschichte der Intentionen, nicht um die Stilgeschichte der Formen.
RF: Ihre Ausstellungen sind durch eine Fülle von Beziehungen zwischen den einzelnen Ausstellungsstücken geprägt. Das soll die „Obsessionen“ oder kreativen Ideen hervorholen, erlebbar machen.
HS: Das Thema „Wien um 1900“ ist zu überwinden. So mußte ich nichthistorische Komponenten einbeziehen. Anderenfalls hätte ich ein weiteres Mal einen Freud-Raum, einen Saal für Schiele, für Klimt und für Kokoschka bauen müssen. Man sieht beim Betreten der Ausstellung die Turmbekrönung des Stephansdoms, die Freudsche Couch von Hans Hollein, ein Standfoto aus G.W. Pabsts Film „Geheimnisse der Seele“ und das Gemälde aus der Wunderkammer auf Schloß Ambras in Tirol, auf dem ein Reiter des 16. Jahrhunderts mit der Lanze, die sein Auge durchquerte, weiterlebt – eine Metapher über die Idee der Ausstellung, die ins Auge zu stechen hat.
RF: Ein anderer Ausstellungsraum konfrontiert Paul von Rittinger, den Erfinder des Sindbad-Spiels, mit Mendels Erbgesetzen und der Veränderung der K.K. Geographie am Beispiel des Semmering und Adolf Loos' Architektur. Anderswo stehen die Gipsabgüsse von Mordinstrumenten, die der Grazer Kriminologe Hans Gross zur Jahrhundertwende anfertigte, neben „Paßstücken“ von Franz West.
HS: West visualisiert in diesen Skulpturen Körperneurosen. So steht das in enger Beziehung. Hans Gross erfand auch einen Koffer mit Instrumenten für den Untersuchungsrichter – eine Art Vorläufer des „Museums im Koffer“ von Marcel Duchamp. Was wäre Duchamp ohne die österreichische Erfindung der Auer-Gaslampe in seinem letzten Werk „Etant donné“? Wir zeigen auch den Prototyp der verpackten Nähmaschine von Man Ray, wobei die Nähmaschine natürlich auch eine österreichische Erfindung ist. Die Definition des Surrealismus mit dem berühmten Satz von Lautréamont , der „zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, wäre sonst nicht möglich. Der Satz ist letztlich sehr österreichisch.
RF: Was ist für Sie das Österreichische?
HS: Die Österreicher sind unglaublich egozentrisch. Im vergangenen Winter las ich fast alle Bücher von Thomas Bernhard. Diese Animosität, die mit schwerem Atem daherkommt und musikalisch auftritt, ist typisch österreichisch. Auch spürt man ständig diese umfassende Organisation, die eine Erbe der Zeit ist, als man das Völkermosaik zusammenhalten mußte. Diese Eindrücke haben zum Titel „Austria im Rosennetz“ geführt, nach Herzmanovsky-Orlandos Roman „Gaulschreck im Rosennetz“. Auf dem Ausstellungsplakat haben wir zusammengefaßt, was mir zu Österreich einfällt: Dichter, Doppelbegabung, Strukturalisten – Alles.
Harald Szeemann, geboren 1933 in Bern, Dr. Phil, zunächst Schauspieler, Maler und Dichter, 1961–69 Leiter der Kunsthalle Bern, 1969 bahnbrechende Ausstellung „Wenn Attitüden Form werden“ und Gründung der „Agentur für geistige Gastarbeit“. 1972 Leiter der „documenta 5“, Kassel. Freier Ausstellungsmacher, lebt in Tegna, Schweiz.
Austria im Rosennetz 01
Spinner und Egozentriker. Gespräch mit Harald Szeemann
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