Symposion 18

Was hält virtuelle Kunst im Museum? Gespräch mit Jeffrey Shaw

Olga Grimm-Weissert: Sie haben seit 1988 als erster Künstler mit großen, dreidimensionalen virtuellen Räumen gearbeitet. Mit „Legible City“ (1988–1991) haben Sie eine virtuelle Stadt erfunden, die aus Buchstaben, Wörtern und Sätzen statt Straßen besteht. Also eine „lesbare“ Stadt. Wie funktioniert Ihre Computerkunst? 

Jeffrey Shaw: Es handelt sich um eine technologische Arbeit mit virtueller Realität: sie basiert auf einem Computer, der dreidimensionale Räume erzeugen kann.

OGW: Sind die Ausstellungsbesucher anfangs nicht geschockt? Es ist ja oft ihre erste Begegnung mit der Welt der Virtualität.

JS: Ich selbst habe diese Art von Interaktivität erstmals auf einer Warenmesse entdeckt. Obgleich ich nur einen Würfel auf einem Bildschirm manipulieren konnte, bereitete mir das ungeheure Freude, denn normalerweise ist unsere Erfahrung mit Bildern ja passiv. In meinen interaktiven Computerinstallationen dagegen gibt es einen Bildschirm, der nur darauf wartet, daß Sie ihn transformieren. Sie machen sich also das Bild, das Ihren Wünschen entspricht und sie spiegelt. Das Aufregende an der Interaktivität ist die Verwandlung des Kunstwerks in ein latentes Ding, das darauf wartet entdeckt und belebt zu werden. Wie man ein Buch benützt, indem man durch die Seiten wandert.

OGW: Die Computerwelt ist heute bereits von der Multimedialität geprägt, dem Zusammenschluß von Bild und Ton in simulierten Welten. Künstlerisch scheint dies noch kein tragfähiges Terrain zu sein.

JS: Ich verwende nur selten Sound, da ich die Tonspur im Kino oder Fernsehen nicht mag. Arbeiten ohne Ton sind, mit ihrer Ruhe, gerade durch ihre Gegenposition zu den Medien so stark. Außerdem hören die Menschen solcherart ihre eigenen Geräusche und die des Fahrrads, auf dem sie fahren. Mich interessiert die Kollision dieser bekannten Situation mit dem fiktiven visuellen Raum. Allenfalls arbeite ich mit einem Komponisten, der im Soundbereich das gleiche Ergebnis anstrebt wie ich im visuellen Feld. Es muß zum Beispiel eine selbständige Interaktivität auch in der Tonspur geben, nicht bloß Begleitmusik.

OGW: Diese Arbeiten erfordern noch einen immensen technischen Aufwand, insbesondere an starken Rechnern, die sich weder Galerien noch Privatsammler leisten können. Ist Ihre Kunst nicht ausschließlich auf das Museum beschränkt?

JS: Ganz im Gegenteil. Nur wenige Museen schaffen es, sich solcher multimedialen Werke im traditionellen Sinn mit Ankäufen und langfristigen Präsentationen anzunehmen. Dazu reicht schon ihre technische Kapazität ob des Wartungsaufwands der neuen Medientechnologie nicht aus. So herrscht eine gewisse Nervosität. Natürlich finden Sie in manchen Museen ein Werk von Nam June Paik, Gary Hill oder Bill Viola. Doch vor allem sind diese Werke anläßlich von Festivals zu sehen wie bei der „Ars Electronica“ in Linz, einer der größten Veranstaltungen, die diesen Werktypus einem breiteren Publikum zugänglich macht. Die Museen in ihrer aktuellen Form und geistigen Haltung sind für unsere Werke kein passender Rahmen.

OGW: Weil sie nicht auf Interaktivität eingestellt sind?

JS: Die Frage ist jetzt: Was ist das Museum? Welche Mutation muß das Museum durchmachen, um sich auf diese neuen Werke ein- oder umzustellen? Welche Architektur wird benötigt? Wie ist das geeignete Verhältnis zum Publikum? Denken Sie nur an die Öffnungszeiten. Auf einer Mediengrossveranstaltung wie der Biennale in Lyon werden die üblichen Zeitrahmen eines Museums oder einer Bilderausstellung gesprengt. Man braucht ungleich länger, um sich auf die einzelnen Werke einzulassen. Interaktivität ist nicht mehr eine Kunst des Augenblicks, sondern eine Kunst des Prozesses, der Auseinandersetzung und eines Lern- und Entdeckungsvorgangs. Der jahrmarktartige Festivalrahmen ist dafür also auch keineswegs ideal.

OGW: Also doch permanente Installationen?

JS: Zumindest sollten die Leute öfter darauf zurückkommen können. Eine weitere interessante Eigenschaft dieser Werke ist ihre unendliche Reproduzierbarkeit. Es gibt kein „Original“ im traditionellen Sinn. Sie bestehen im wesentlichen aus einem reproduzierbaren Computerprogramm, wobei jede Reproduktion identisch ist. Dadurch gibt es die Möglichkeit, das Werk an vielen Orten zu verbreiten. Das hat ein spezifisches Verhältnis zum Museum zur Folge, denn derzeit zieht jedes Museum sein Publikum mit der Verheißung auf die Einzigartigkeit der Werke an, die in seinen Räumen ausgestellt werden. Der Kompromiß für ein Museum wäre, das Kunstwerk anzukaufen und damit sein Eigentümer zu sein, jedoch nicht die physische Exklusivität seiner Präsentation zu beanspruchen. Es kann reproduziert an vielen Orten existieren, wobei jeweils präzisiert wird, welches Museum der Eigentümer ist. Das wäre auch insofern interessant, weil es das Museum von der Fixierung auf einen einzigen Ort befreit. Die Grenzen des Museums lösen sich auf. Wo genau die Mauern des Museums aufhören und was heute der Begriff „Museum“ bedeutet, ist eine Kernfrage.

OGW: Computer sind für die Menschen heute weitgehend gleichbedeutend mit der Privat- oder Arbeitssphäre. Sie aber machen daraus einen betont offenen, öffentlichen Raum.

JS: Beides ist zusammenschließbar, die Grenzen lösen sich auf. Ein Kunstwerk wie die „lesbare Stadt“ kann in ein bis zwei Jahren ins Internet geschaltet werden. Leute die zu Hause einen Computer haben, dessen Rechnerkapazität und Geschwindigkeit ausreicht, um die erforderliche Datenmenge aufzunehmen und zu verarbeiten, können es dann jederzeit abrufen. Sie müssen nur noch den Monitor an Ihr Heimfahrrad anschließen – und schon ist das Werk bei Ihnen zu Hause!


Jeffrey Shaw: geb. 1944 in Melbourne (Australien), studierte ebenda Kunstgeschichte und Architektur; später Bildhauerei in Mailand und London. Gründungsmitglied der Eventstructure Research Group in Amsterdam (1967–1980) mit pneumatischen Installationen zu Wasser und zu Land. Als Lichtkünstler gestaltete er u.a. light-Shows für die Rockgruppe „Genesis“ (1978). Interaktive Hauptwerke, darunter „The Legible City“ (mit Dirk Groeneveld, 1988–91), waren im vergangenen Herbst als Trigon-Personale im Künstlerhaus Graz sehen (Kurator: Peter Weibel) und zuletzt auf der dritten Biennale d'Art Contemporain von Lyon (Dez. 1995–Feb. 1996), die einer Bilanz der Medien-, Video- und Computerkunst seit den sechziger Jahren gewidmet war.

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