Über Stadtentwicklung und Kommunikationsgesellschaft
William Menking: Sie beschreiben in einem Ihrer Bücher eine grundlegende Veränderung des Stadtbegriffs – weg von der Betrachtung der Stadt als einem Ganzen.
Christine Boyer: Die meisten stadtplanerischen Handlungen der letzten Jahrzehnte vollziehen eine Unterteilung der Stadt in „Zonen“. Es geht in verschiedenster Weise, aber immer nach dem gleichen Grundgedanken um die Ausbildung urbaner Zonen, die von unsichtbaren Grenzen gegen die Außenwelt geschützt sind und deren genau abgestimmtes Rollenspiel festlegt, wer diese und jene Zone betreten darf und wer nicht. Im Fall von New York wird der Bereich um die 42. Straße derzeit als eine solche Zone ausgebaut. SOHO ist eine weitere Zone, das Drogenviertel eine andere, ebenso NIMBY (Not In My Back Yard), Battery Park usw. Ähnliches kann man in London oder Paris feststellen. Man handelt nicht mehr in Bezug zur Stadt, sondern die Stadt ist nur noch eine Anhäufung von Standorten.
WM: Das Projekt „42. Straße“ mit einem Disneyland inmitten von New York ging letzthin durch die Weltpresse.
CB: Times Square und die 42. Straße wurden um 1900 mit der U-Bahn zu einem historisch gewachsenen Viertel mit vier vorherrschenden Funktionen: Theater, Firmenneugrundungen, Unterhaltung und Pornographie, später das Kino. Es liegt ja nur zwei Stationen von Harlem entfernt. Die Absicht der neuen Investoren für das Großprojekt „42nd Street“ besteht dagegen darin, eine homogene Zone tourismusorientierter Unterhaltungspaläste mit Madame Tussaud's Wachsfigurenkabinett und einem innerstädtischen Disneyland-Ableger zu schaffen. Der Architekt Robert A. M. Stern sieht für den Häuserblock zwischen der 7. und 8. Avenue eine Collage aus allen historischen Stilen vor, die sich am alten Times Square überlagerten. Damals handelte es sich um eine anarchistische, spontane Entwicklung, weil die verschiedenen Schausteller die Passanten durch immer stärkere Leuchtreklamen anziehen wollten. Nun dagegen soll ein abgestimmtes, künstliches Ensemble ohne besondere Funktion als perfekte Simulation des historischen New York entstehen. Dazu entfernt man auch die Pornoläden aus der Zone.
WM: Sie schreiben, die gesamten USA würden bald nur noch aus harmonisierten Ensembles dieser Art bestehen.
CB: Diese Entwicklung ging von den Rändern der Metropolen aus, wo Mittelstands-Wohnviertel neuer Art entstanden. Es handelt sich um umzäunte Bereiche, die die Gewährleistung von Sicherheit auf der Straße und besondere Dienstleistungen wie Hauszustellung, Golfplätze, Schulen und Swimmingpools über gemeinschaftliche Entwicklungsfonds gewährleisten und fiskalisch fast autonom sind. Die Steuern gehen nicht mehr an die Stadtverwaltung, sondern an das als Wehrburg ausgebildete Viertel. In Wirklichkeit handelt es sich um eine ökonomische Segregation.
WM: Es handelt sich dabei um Phänomene der „Privatisierung“ des urbanen Raums gegenüber dem Begriff der Öffentlichkeit als Verkörperung der Stadt.
CB: New York war für die besten staatlichen Schulen, die besten Parks und die besten Spitäler bekannt. Den berühmten „Central Park“ zum Beispiel aber hat man zum Teil privaten Gruppen anvertraut, die von den reichen Einwohnern der umliegenden Straßen finanziert werden. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hieß es, die Regierung sei nicht effizient, und man solle bestimmte Aufgaben der privaten Hand übertragen. Private Werte aber sind per Definition nicht uneigennützig. So haben die Geschäftsleute gesagt: „Wir brauchen eine sichere Zone“, und den Rest der Bevölkerung ausgesperrt.
WM: Sie sprechen von regelrechten Kleidervorschriften, die die Zonen-Stadt der Zukunft bestimmen.
CB: In Miami hat man zwei Zonen eingerichtet. In der Zone der Unberührbaren dürfen sich Obdachlose und arme Leute frei bewegen. Es gibt sogar Duschen für sie. Im Rest der Stadt dagegen können schlecht gekleidete Personen, Arme also, jederzeit festgenommen werden.
WM: In Ihrem neuen Buch über die „Cyberstädte“ ziehen Sie eine direkte Analogie zwischen der Kommunikationsgesellschaft und diesem neuen zonalen Leben.
CB: Mit der Faszination für Computer, E-Mail und Internet entsteht eine Gesellschaft, in der die Leute weltweit mit ihresgleichen kommunizieren, wodurch die gleiche Art geschützter Zonen entsteht wie im Städtebau. Man sagt neuerdings: „Brauchen Sie dazu ein Gesicht?“, um zu sagen, daß man eine Entscheidung per elektronischer Kommunikation am Bildschirm treffen kann und sich nicht persönlich treffen muß. Die Armen dagegen haben keine PCs – es handelt sich um eine elektronische Segregation. Andererseits geht die Akzeptanz dieser Entwicklung mit einer Mentalitätsverschiebung einher: Spiel und Arbeit am Computer heißt, unzähligen vom Apparat erteilten Befehlen blind zu gehorchen. „Übertragen, Wechseln, Verlassen . . .“ Das verändert unsere Wahrnehmung. Die Sicherheitszonen der neuen Stadtviertel sind Computerspiele im großen Maßstab.
William Menking lebt in New York. Er ist Professor für Stadtplanung und Architektur am New Yorker Pratt Institute und Architekturkritiker für das Stadtmagazin „Time Out“.
Christine Boyer ist Professorin für Urbanismus an der Princeton University. Bücher u. a.: „Dreaming the Rational City“, „Manhattan Manners: Architecture and Style 1850–1890“, „The City of Collective Memory“. Demnächst erscheint „Cybercities: Visual Perception in the Age of Electro Communication“.
Symposion 15
Die elektronische Segregation. Gespräch mit Christine Boyer
AutorInnen