Da waren sie plötzlich wieder: die schreiend bunt gemusterten, schlabberigen DEDERON-Beutel [bekannter DDR-Plastiksack. Wortspiel aus DDR und (Nyl)on, Anm. von m.i.p.] in der Hand unscheinbar gekleideter Herren. Einkaufshungriger Schnäppchenjägerblick, ein bißchen unsicher im ungewohnten Ambiente, tapfer der Vernissagenunverbindlichkeit ausweichend – der getarnte Minderwertigkeitskomplex in der Warteschleife. Als der Eröffnungsredner seinen Sülz auf den zu ehrenden Gast abzuladen beginnt mit der Formel „Lieber Willi“, geht ein klassenkämpferischer Ruck stillschweigenden Einverständnisses durch die Reihen.
Keine Frage: Die Ostler schlagen zurück, jetzt ist der Westberliner Kurfürstendamm in der Hand der Genossen aus der östlichen „Mangelgesellschaft“.
So habe ich die Eröffnung der Ausstellung Willi Sittes, des einst lebenslang zum Ehrenpräsidenten des „Verbandes Bildender Künstler der DDR“ verdonnerten Vollfett-Malers aus Halle, in der hochkommerziellen West-Berliner „Ladengalerie“ im Februar 1994 erlebt. [Geboren 1921 in Kratzau, als Maler Verfechter eines an die Prinzipien des Marxismus-Leninismus geknüpften heroischen Menschenbildes. Mitglied des ZK der SED und informeller Mitarbeiter der Stasi, Anm. v. m.i.p.].
Zeigt das Comeback der „Maler-Funktionäre“ aus der ehemaligen DDR, die durch die Verbindung von Künstlertum und hoher Stellung im parteioffiziellen Kulturleben auffielen, im kommerziellen Kunstbetrieb des Westens, daß die vielberedete deutsche Einheit perfekt ist? Vielleicht mehr, als wir denken.
Zurück zu Willi Sittes Ausstellung. Kaum waren die anbiedernden Aufmunterungen des Paulskirche-Ausmalers Johannes Grützke, der Sitte in sein Herz geschlossen hat, verklungen, setzte der Run auf die farbensatt aus den Keilrahmengevierten quellenden Fleischbatzen ein. Der Hunger nach „richtigen“ Bildern – hier durfte ihn der unterleibsüchtige Macho stillen. Sitte, den seine Schlüssellochperspektiven zu DDR-Zeiten fast in Ungnade bei den Dogmenhütern gebracht hätten, trumpft wieder mit kraftstrotzenden Mannsbildern und immer wieder besinnungslos auf dem Rücken liegenden Gebärmaschinen auf, als ob er sich den Mehltau aus dem Suspensorium schleudern müßte.
Die Maßstäbe gerieten bereits völlig durcheinander, als Willi Sitte sich bei Werner Brüssau am 14. April 1992 im ZDF als vergeßlicher Show-Star präsentieren durfte und Werner Tübke (mit Sitte, Wolfgang Mattheuer und Bernhard Heisig auf der „documenta 6“ 1977 in Kassel als Star des staatsoffiziellen DDR-Realismus im Westen lanciert) vom Kölner Insider-Magazin „Texte zur Kunst“ zum postmodernen Leistungsoptimisten hochstilisiert wurde.
Ansonsten hielten sich diese Künstler in der Vergangenheitsbewältigung der Nachwendezeit bewußt zurück. Damit entsprachen sie dem, was sie auch zu DDR-Zeiten charakterisierte: nämlich an der verbalen Auseinandersetzung höchst selten mit systemkritischem Anspruch teilgenommen zu haben, getreu der Devise der deutschen Klassiker: „Bilde Künstler, rede nicht!“. Künstler wie Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer, die wie ein Basso continuo ihre Freiheit im Sozialismus interpretierten und nicht fähig waren zu erkennen, wie die Partei sie instrumentalisierte, wirkten wie larmoyante Plauderer, deren ambivalentes, aber nie oppositionelles Verhältnis zur SED gesäumt wird von taktischen Verbeugungen. Ihre Dauerkräche mit Provinzfunktionären wußten sie geschickt in den politischen Tauwetterperioden zu nutzen. Der Verlust der kleinen Sicherheitszone wird heute von ihnen mit nostalgischer Rückbesinnung beklagt. Nach ihrem Vorbild handelte übrigens ein nicht unwesentlicher Teil der jungen Künstlergeneration, die fest mit der Kontinuität der Bezugsgröße DDR rechnete.
Als man Mattheuer im Herbst 1989 als Reformer feierte, hatte er damit wohl sein größtes Zeitpanorama live inszeniert, das der totalen Selbstüberschätzung, und damit den für ihn folgenschwersten Fehler begangen: ein künstlerisches Werk gegen einen Stehplatz auf der Tribüne zu vertauschen. Der Gipfel des Mißverständnisses von seiten der mitleidenden Bonner Politschickeria ist wohl die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1993 an den „Problembild“-Artisten Mattheuer. Wie sich doch die konservativen Systeme gleichen.
Daß Bernhard Heisig, wie Mattheuer Leipziger, 1994 mit 48 Gemälden und einem grafischen Zyklus von Herford aus nach Siegen, Oldenburg und Reutlingen tourte, zeigt an, wie groß die Akzeptanz in der westdeutschen Provinz gegenüber einer ästhetisch konventionellen, vergangene Trachten zitierenden Kunst- und Weltanschauung ist. Widerspruch, Gegensatz und Konflikte – alles vergessen. Ein Loblied auf den wackeren Pinsel. Hat da einer geunkt, die Deutschen fänden keinen Weg zueinander?
Während die junge Künstlergeneration im Osten sich heute immer mehr einigelt und froh ist, daß die D-Mark zu ihnen kam, was ihnen die Mühe ersparte, zur D-Mark zu pilgern, spuckten Altfunktionäre der DDR im wiedervereinigten Kunstbetrieb bereits wieder große Töne. Ich empfehle als Lektüre die Feuilletonseiten des Neuen Deutschland. Da schreiben sie alle wieder: der Feldwebel des DDR-Kulturberichts Dietmar Eisold, aber auch Hermann Raum, dessen Spitzelbericht über den Auftritt von Joseph Beuys in der damaligen „Ständigen Vertretung der BRD in der DDR“ unvergessen ist. Heute präsentiert er sich als Weißwäscher, dessen Stalinismus plötzlich Sympathien bei trendigen neomarxistischen Kunsthistorikern in Westdeutschland findet.
Leicht entsteht der Eindruck, alles in der DDR als Kunst Produzierte sei Auftragskunst gewesen. Auf fatale Weise reproduzierte die Ausstellung „Auftrag: Kunst“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin diesen von der Westseite in Richtung Osten projizierten Exotismus.
Es ist ein fatales Mißverständnis, DDR-Kunst zusammenzuschnüren auf ein ästhetisches Abklatschverfahren, das sich populistisch gab und um den Wiedererkennungseffekt buhlt. Daß in den achtziger Jahren Rockbands junge Künstler und Künstlerinnen mit Covergestaltungen ihrer unter der Hand vertriebenen Musikcassetten beauftragten, daß die Staatstheater in Dresden und Altenburg auftragsweise nonkonformistische Bühnenentwürfe, Performances und obskure Installationen für ihre Foyers orderten, die sich in nichts von westeuropäischen Ereignissen unterscheiden, haben die westlichen Kollegen tunlichst vermieden mitzudenken. Warum wohl? Damit die Mythen erhalten bleiben (nur der Mythos ist echt!) und das vom Westen aus entdeckte „Authentische“ der Kunst der DDR auch weiterhin die Konservativen in Ost und West vor der Moderne schützt.
Christoph Tannert, geb. 1955 in Leipzig, lebt seit 1976 in Berlin. Er war seit 1984 der wesentliche freie, Kunstkritiker in der DDR, besonders für die junge, von der offiziellen Staatskunst unabhängige Szene in Ost-Berlin, Leipzig und Dresden. Nach dem Fall der Berliner Mauer betrieb Tannert zunächst die „Galerie Vier“, die sich um junge Kunst aus der Ex-DDR bemühte. Seit 1991 ist er als Projektleiter des Künstlerhauses Bethanien in Berlin und als Mitbegründer des Brandenburgischen Kunstvereins Potsdam (1993) einer der aktivsten Ausstellungsmacher in Deutschland. Er ist Herausgeber der Zeitschrift BE in Berlin (Nr. 3, Herbst 1995: Thema „Langeweile“).
Symposion 12
Pinselfleißige Übersetzer. Die Unmöglichhkeit, DDR-Kunstgeschichte neu zu schreiben
AutorInnen