Symposion 12

Ich denke und ich fühle in Kunst. Gespräch mit Frédéric Bruly Bouabré

Robert Fleck: Anläßlich Ihrer Ausstellung im Frankfurter „Portikus“ 1993, einer Ihrer ersten Einzelausstellungen in Europa, fand sich ein überaus junges Publikum ein, das sich von Ihren Zeichnungen offensichtlich direkt angesprochen fühlte.

Frédéric Bruly Bouabré: Sehen Sie, wenn Sie über die Straße gehen, und Sie sehen eine schöne Frau, dann interessieren Sie sich für sie. Ich sehe, daß sich dies in Europa auch so mit meiner künstlerischen Arbeit ereignet, was mich überaus freut. Es ermutigt mich, noch besser arbeiten zu wollen.

RF: Damals in Frankfurt hatte ich den Eindruck, daß sich die jungen Leute vor allem für die spirituelle, fast mystische Dimension Ihrer enzyklopädischen Werkserien interessierten, die Zeichnung und Dichtung verbinden. Man findet bei Ihnen etwas wieder, was der 1986 verstorbene Künstler Joseph Beuys geleistet hatte, in der Kunst seither aber weitgehend fehlt.

FBB: Beuys kenne ich leider nicht. Doch allgemein: Ein Künstler sollte sich stets als einen Professor betrachten, als einen Lehrer. Der Künstler ist dazu geboren und berufen, zu lehren. Künstler sein heißt, die Dinge in ihrer Unschuld zu offenbaren. Gehen können, betrachten können, sprechen können, Dinge auswählen können, das alles ist Kunst. Im täglichen Leben eines jeden. So gesehen gehört das Wort „Kunst“ per Definition zur Jugend.

RF: Sie sind nunmehr, mit 72 Jahren, zum dritten Mal in Europa, hatten aber schon zuvor ein intensives Verhältnis zur modernen Kunst.

FBB: Ich sah früher die europäische Kunst in den Büchern. Für mich ist Kunst eine universelle Sache. Wenn man mich am Zoll fragt, welche Waren ich mitführe, sage ich: „Kunst“, weil ich in Kunst denke und fühle.

RF: Die Zeichnungen verbinden sich bei Ihnen stets mit einer rundumlaufenden Schrift, die zwischen afrikanischer Legende und Poesie schwebt.

FBB: Nehmen wir an, ich zeichne eine mythische Person mit großem Bauch. Wenn ich das tue, muß ich auch die Bildunterschrift liefern: weshalb die Person in dem Märchen oder der Geschichte einen großen Bauch hat und so weiter. Man muß die Bilder erklären. Denn ein Bild kann alles mögliche bedeuten, aber wenn es darüber hinaus auch um Denken geht, muß man das zeigen. Das Denken ist ebensowichtig wie die Bilder, wie das Vergnügen für die Augen.

RF: Ist die Rolle des Künstlers also die eines Philosophen, eines Weisen?

FBB: Ja. Wenn man zeichnet, denkt man viel. Man beobachtet die Natur, das Licht, sogar die Sterne. Man bildet Urteile und wertet. Eines Tages sagte ich, es gibt drei Reiche der Natur, das mineralische – die Erde selbst –, das pflanzliche und das tierische mit dem Menschen. Für mich dreht sich alles um die Frage, woher wir kommen.

RF: Ihre Zeichnungsserien waren erstmals 1989 in der Pariser Großausstellung „Magier der Erde“ zu sehen, die einen multikulturellen Kunstbegriff definierte. Wie hatten Sie diese Arbeit begonnen?

FBB: Ich war zunächst Beamter der französischen Kolonialmacht, später der Republik Elfenbeinküste. Ich kümmerte mich um die Personalausweise. Mit der Unabhängigkeit bekamen wir wie alle afrikanischen Nationen einen Präsidenten, den leider verstorbenen Felix Houphouet-Boigny. Er war sehr kunstfreundlich, und die Tänzer und Sänger traten oft vor ihm auf. Ich fragte mich: Sind Tanz und Musik schon die ganze Kunst? Wie ich schon sagte, ich finde, sprechen können sei Kunst, sehen können sei Kunst, schwimmen können sei Kunst. Die Kunst ist etwas Universelles, das in jedem Menschen lebt. In der Schule hatte ich zeichnen gelernt, und so entstanden unzählige Zeichnungen, mit denen ich das zu umkreisen versuchte. Ich habe diese Zeichnungen aufgehängt, und der Präsident hat die Accrochage dann auch besichtigt.

RF: Viele Künstler beschäftigen sich heute mit der „Mediengesellschaft“: Dank Fernsehen und Satellit sind die Bilder allgegenwärtig geworden – aber vielleicht auch banalisiert.

FBB: Ich blicke nur selten ins Fernsehen. Afrika lebte bis vor wenigen Jahrzehnten fast ohne Schrift. Man sprach vom Stadium der „Oralität“, der mündlichen Überlieferung. Die Vorrang- und Machtstellung Europas gegenüber Afrika beruhte auf der Schrift. Schrift ist Denken. Deshalb interessiert mich auch die Schrift so sehr. Wenn ich ins Fernsehen blicke, denke ich: Das ist ja Oralität! Eine neue Kultur der Mündlichkeit mitten in Europa – wie in Afrika vor der Alphabetisierung durch die Europäer! Das Fernsehen ist ein Feind des Denkens und der Kultur.

RF: Bei einer derzeit in Paris laufenden Ausstellung hat man ihre Zeichnungen mit afrikanischen Plastiken konfrontiert, während der französische Konzeptkunstler Bertrand Lavier seinen eigenen Werken einen Formel-1-Rennwagen gegenüberstellte.

FBB: In der Kunst herrscht nach wie vor ein extremer Eurozentrismus. So stellt man vor den Künstler aus Afrika eben traditionelle afrikanische Masken. Ich hätte lieber den Rennwagen neben meinen Zeichnungen gesehen. Das wäre nur richtig gewesen. Denn das Rad wurde in Afrika erfunden, nicht in Europa.


Frédéric Bruly Bouabré, geb. 1923 in Zéprégüé (Elfenbeinküste), lebt in Abidjan. In seinen von Schriftbändern umgebenen Zeichnungen greift er Vorlagen aus Büchern, Zeitschriften und der modernen Kunst auf, die er in mythische Bilderzählungen über die zeitgenössische Wirklichkeit umsetzt. Er wendet sich damit in erster Linie an seinen Stammesverband, die Bete, vertritt aber zugleich einen universellen, nicht an nationale Vorstellungen gebundenen Kunstbegriff. Bis 28. Jänner läuft im Pariser „American Center“ die Doppelretrospektive „Worlds Envisioned“ von Alighiero e Boetti und Frédéric Bruly Bouabré, organisiert von Lynn Cooke und Andre Magnin. Bruly war mit einer Einschaltung über eine ganze Zeitungsseite am 27. April 1995 (S. 25) im STANDARD/museum in progress vertreten. Bücher: Katalog der Wanderausstellung Frankfurt, Berlin, Bern, Aachen 1993.

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