Wie gestaltete Räume psychologische Prozesse in Gang setzen
Marcia Tanner: Sie haben mit Ihrer Installation Gallery 1992 ein klaustrophobisches Universum der Rassenungleichheit in Nordamerika geschaffen. Kann Kunst direkt in gesellschaftliche Debatten eingreifen?
Mel Chin: Ich dachte dabei an die lange Geschichte von Angriffen gegen Asiaten. Anlaß war der Mord an Vincent Chin. Dann stellte das Gericht keine Verletzung der Bürgerrechte auf seiten der Täter fest und ließ sie wieder frei. Mir schien es, das würde jeden betreffen.
MT: Gab es dafür aktuelle Ereignisse als Auslöser oder nur einfach die schmerzvolle persönliche Erfahrung?
MC: Als ich aktuelle Dinge sah, fiel mir ein, wie sehr ich in meiner Kindheit und Jugend rassistischen Angriffen, Schimpf und körperlichen Übergriffen ausgesetzt war. Wenn Freunde in der Schule sich kollektiv aus rassischen Gründen über einen lustig machen und einem „Spitznamen“ geben, sobald sie unter sich sind: In solchen Situationen erkennt man das Scheitern der Sprache bei der Aufgabe, sich gegen solche Dinge zu verteidigen. Daraus gewinnt man seit frühen Jahren die Überzeugung, daß entweder die Sprache so weit entwickelt werden muß, um damit fertigzuwerden, oder daß einem die Sprache fortwährend in den Rücken fällt.
MT: Was ließ Sie plötzlich reagieren?
MC: Ich sah im Fernsehen Leute, die ein japanisches Auto zertrümmerten. Mein erster Gedanke war, der nächste könnte ich sein. Die Leute sagen ja nicht, bevor sie zuschlagen: „Das ist ein Japaner“ – und nicht ein Chinese. Ich hatte mich auch zuvor dafür interessiert, was in den schwarzen und koreanischen Bezirken von New York vorgeht. Davon ausgehend versuche ich, psychologische Räume zu schaffen, wie ich sie nenne. Es geht mir um Skulpturen, die nicht als formale Verkörperung eines bestimmten Sachverhalts oder Ereignisses faßbar sind, sondern um die physische Beschreibung eines Raumes, der mit Bedrohung geladen ist. Ich suche keineswegs einen Nachvollzug des Betrachters gegenüber solchen Ereignissen zu erreichen. Das ist gar nicht möglich. Bevor Sie nicht tatsächlich zu den Opfern zählen, können Sie sich das gar nicht vorstellen.
MT: Die Installation Gallery bestand aus Räumen, die ineinander übergingen, deren Türen aber „Amerikanern“, „Asiaten“ usw. zugewiesen und vom Besucher aufzustoßen waren. Ich persönlich verstand so erst, wie Unterdrückung abläuft und wie Unterdrückte dann wieder zu Unterdrückern einer anderen Gruppe werden.
MC: Ich kann als Künstler keine Kritik formulieren, ohne zuvor die Kräfte erforscht zu haben, die es auch in mir gibt und die es ausmachen, daß sich eine solche Sache wirklich ereignen kann. Der Grundgedanke der Arbeit war, daß ich mich in verschiedene Wesen aufzuspalten hatte: in den Amerikaner, der ich bin, aber auch in Mitglied der asiatischen Minderheit. Ich bin ja beides zugleich. Was mich interessierte, war die Verinnerlichung von Furcht. Man fühlt sich augenblicklich betroffen, wenn man durch eine dieser Türen geht.
MT: Eine andere psychologische Installation mit politischen und logischen Gehalten war Earth See-saw. Zwei Rechtecke im Boden hoben oder senkten sich, sobald Leute darauf standen.
MC: Ich meinte die Erwartung, wie die Erde aussehen könnte und wie sie tatsächlich aussieht. Das Gefühl langsam in den Boden zu sinken, eine starke Erfahrung. Die Schaffung neuer physischer und psychologischer Erfahrungen ist ja seit je eine wichtige Aufgabe der Kunst.
MT: Revival Field dagegen ist ökologisches Denkmal für den Außenraum, das seit 1991 in einem Feld Minnesota steht und in mehreren Ausstellungen weltweit auftauchte.
MC: Es besteht aus einem kreisförmig eingezäunten, mit Cadmium dem chemischen Stoff in den Batterien – verseuchten Feld, in dem sternförmig sechs besonders Cadmium-aufnahmefähige Pflanzen gezüchtet werden. Nach den guten Ergebnissen der ersten Jahre übertrugen wir die so herangewachsene neuen Pflanzenarten an andere, besonders verseuchte Orte.
MT: Neben der direkten Bezugnahme auf Politik und Ökologie spielt Alchemie für Ihre „vergänglichen Denkmäler“ eine große Rolle.
MC: Es geht mir zunächst um poetische Situationen. Bestimmte Materialien können mit Begriffen und Vorstellungen aufgeladen sein, die erhellender wirken als Sprache Auch durchziehen bestimmte Formen die ganze Geschichte der Kunst und Kultur. Das alles hat mit Alchemie zu tun – mit Chinesischer Alchemie übrigens weit stärker als mit der europäischen Suche nach der Umwandlung von Erde in Gold, die ja aus der Chinesischen Alchemie über arabische Einflüsse stammt. Ökologische Außenskulpturen wie das Revival Field aber sind in erster Linie praktische Dinge: Ich pflanze mit Assistenten, ernte und übertrage die Pflanzen dann an andere, hochverseucht Orte. Daß die Pflanzen dann dort auch noch wachsen, zeigt so etwas wie die Möglichkeiten der Welt. Ich denke, daß sich der Künstler heute gewollt oder ungewollt zwischen solchen Kräften bewegt.
Mel Chin wurde 1951 in Houston, Texas, als Kind von Eltern Chinesischer Abstammung geboren und lebt in New York und Athens, Georgia. Seit Mitte der siebziger Jahre gilt er durch Skulpturen und Kunstwerke im öffentlichen Raum, Performances und multimediale Installationen als einer der führenden Künstler im politischen und ökologischen Bereich. Er hatte Einzelausstellungen in renommierten Museen wie dem Hirshhorn Museum in Washington, dem Walker Art Center in Minneapolis und der Menil Collection in Houston. 1989 erzielten die politischen Interventionen Forget Tiananmen in Washington und Conditions for Memory (Bedingungen der Erinnerung) im New Yorker Central Park Aufmerksamkeit weit über das Kunstpublikum hinaus. In den letzten Jahren thematisierte er zunehmend den Rassenhaß gegen asiatische Bürger in den USA (Gallery, eine im Mai 1992 gleichzeitig in San Francisco und Pittsburgh gezeigte Installation) und ökologische Fragen (Revival Field und The State of Heaven). Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen New Yorks läuft derzeit seine Videoclip-Serie Rage/Rap.
Symposion 10
Alchemie auf verseuchtem Grund. Gespräch mit Mel Chin
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