Symposion 07

Die Energien der Überschreitung

Die längere Zeit hindurch dem Nationalsozialismus unterworfenen Länder, wie Deutschland und Österreich, haben in der Folge Gegengifte hervorgebracht, deren Wirksamkeit und Tragweite bis heute nicht ausgelotet sind. Der „Wiener Aktionismus“ beispielsweise ist meines Erachtens kaum verständlich, wenn man ihn nicht auf die eine oder andere Weise als unmittelbare Antwort auf die vom Hitler-Regime organisierten apokalyptischen Vorgänge begreift: Blut und Fett, Haut und Fleisch, Skelette und Opfer, erniedrigte Körper, Verstümmelungen, die Reduzierung der Lebewesen auf ihre Exkremente und eine wilde Körperlichkeit waren die „cloaca maxima“ des Dritten Reichs, die Robert Antelme in einem Buch beschreibt.

In dieser Apokalypse aus Feuer und Blut, zerfetztem Stahl und ihrem Schicksal überlassenen Leichen erwachten die Menschen konsterniert und dem Zwang ausgeliefert, mit diesen Ereignissen zu leben. Die „Wiener Aktionisten“ unternahmen ab 1960 den Versuch, die infernalischen Momente in Erinnerung zu rufen und zu verarbeiten. Sie wählten dazu den dramatischen Modus der Verdichtung und sublimierten Wiederholung, wobei die Affekte aus der Welt der Tatsachen in ein Reich der Simulakra verschoben wurden. Die kathartische Funktion dieser Aktionen und Happenings wurde nur selten erkannt, ebensowenig wie der spielerische, dadaistische oder auch tragische Grundgehalt ihres Denkens.

Dafür zahlen die betreffenden Künstler bis heute einen hohen Preis, und so scheint auch Otto Mühl als eine Art Marquis de Sade unserer Zeit, der, mißverstanden und sensationslüstern verzerrt, heute Taten abbüßt, die er im Geist und der Form der Anklage nach nicht begangen hat.

Mühl war 14 Jahre alt, als die Truppen Nazi-Deutschlands in Osterreich einmarschierten, und wurde 1944/45 noch von der Wehrmacht in die Ardennen-Offensive und die letzten Kämpfe in Böhmen geschickt. Der Gefangenschaft in Sibirien entging er durch eine abenteuerliche Flucht. Die dabei wahrgenommenen Bilder sind in ihrer Bedeutung für seine Kunst gar nicht zu überschätzen. Als Ende der fünfziger Jahre die Begegnung mit Günter Brus und Hermann Nitsch den Schritt zur Aktionskunst auslöste, bildete Mühl einen formalen Spieltrieb aus (1961 bis 1963): Die traditionellen Träger von Malerei, Leinwand und Keilrahmen, wurden in dionysischen und hymnischen Akten zu Materialien für Umbrüche und Zerstürungen. War die Zerlegung zu Materialbildern noch eine Folge des Kubismus, der die Welt in Volumensteile gliedert, so bedeuteten die Gerümpelplastiken den Schritt zur Wirklichkeit, wobei anders als bei Jean Tinguely auch die Maschinenteile in „Material“ aufgelöst wurden. Die raumfüllenden Agglomerationen aus Verfallsprodukten zeigen jene Suche nach der Energie, um die sich Mühls nachfolgendes Werk dreht.

Ab 1963 werden daraus Materialaktionen, in denen erstmals der Körper selbst ästhetisches Material wird. Die Thematik des Körpers und einer Kunst, in deren Zentrum die Suche nach der Kraft und Gewalt der Wirklichkeit und der Ströme der Welt steht, verläßt Mühl in der Folge nicht mehr. Die frühen Aktionen verbinden spielerische Elemente, Inszenierungen und Theatralisierungen alltäglicher Ereignisse, wobei Körper mit Pigment, Flüssigkeiten und Lebensmitteln geschminkt und besudelt werden. Sie bilden eine Propädeutik des „Wiener Aktionismus“ (1962 bis 1973).

1968 antwortet Mühl einem Mann mit masochistischen Wünschen, der Aktionismus könne alles einbeziehen, nichtrepressiv, in der ästhetischen Sublimierung durch künstlerisches Ausleben. Der Grundsatz des französischen Sozialutopisten Charles Fourier (1772 bis 1835), bei freiem Ausleben und spontaner Organisation gebe es keine schädlichen Begierden, bestimmt diese aktionistische Praxis. Nach der „Uni-Aktion“ vom Juni 1968, bei der Mühl den Betreffenden auspeitschte, während skatologische Events stattfanden, schritt die Justiz ein: Oswald Wiener wurde freigesprochen, doch Mühl und Brus zu Haftstrafen von einem und sechs Monaten verurteilt. Man verstand damals weder den subversiven Dadaismus noch die kathartische und rabelaisianische Bedeutung der Wiener Aktionisten für die eigene Geschichte noch die Rolle ihrer spielerischen Theatralisierungen für die internationale Kunst der sechziger und siebziger Jahre.

In der Folge begann Mühl mit postaktionistischen Formen zu experimentieren (1973 bis 1991). Es entstand die Kommune als ein Kunstwerk im Sinne jenes Traumes von kleinen, freien Lebenseinheiten, in denen schon Friedrich Nietzsche neue Möglichkeiten der Existenz sah. Die theoretische Grundlage waren Freud, Wilhelm Reich und Fourier. Die Aktionsanalyse sollte Urszenen und alte Traumata, Verletzungen und Affekte des Individuums theatralisch auslebbar machen.

Nach über zwanzig Jahren wurde die Rolle Mühls als Vaterersatz, Liebhaber, Lebensgefährte und verbindendes Element der Kommune zum Objekt einer Infragestellung, die sich paradoxerweise besonders gut in freudschen und marxistischen Begriffen erklären läßt: Die Söhne töteten mit Mühls Absetzung symbolisch ihren gemeinsamen Ur-Vater, und die bedeutenden Geldmittel der Kommune in den achtziger Jahren ließ die radikalkommunistischen Organisationsprinzipien der Frühzeit zum explosiven Streitpunkt werden. In dieser Situation führten die von Anbeginn an öffentlich proklamierten Prinzipien freier und ungehemmter Sexualität als Prinzipien einer „Gegengesellschaft“ Mühl ins Gefängnis.

In den Briefen und Bildern aus der Haft kommen heute eine überströmende Vitalität und ein Humor zum Ausdruck, deren Ungebundenheit und Radikalität überrascht. Der ästhetische Primitivismus (seit 1991) bei Mühl setzt theatralisierte Brutalität, Naivität und Erzählung auf der Leinwand bewußt als Stilmittel der Verfremdung ein.

Hauptgegenstand sind die von Marcel Duchamp und Pablo Picasso eingeleiteten Hauptachsen der Kunst dieses Jahrhunderts, gefiltert durch die Themen Körper und, Sexualität. Diese nicht für den Kunstmarkt bestimmten Werke sind direkt auf ihre ideologische Botschaft ausgerichtet. Was Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ (1974) beschreibt, wird in einer expressionistischen Grundhaltung und der Unmittelbarkeit des persönlichen Erlebnisses illustriert.

Vielleicht noch deutlicher als zuvor ist die durchgehende Thematik Mühls greifbar: der Körper und seine Energie, das Fleisch und seine Vitalität, die Erotik und die Sinnlichkeit. Man übersieht oft, daß der Wiener Aktionismus nichts so sehr zeigen wollte wie das Leben gegen den Tod, Eros unter Thatanos, eine heidnische und hedonistische Freiheit anstatt der religiösen und asketischen Kasteiung. Im Sinne von Georges Bataille ist Mühl mit seiner Liebe des Körpers, der Frauen und der Freiheit, der Vitalität und von Energien der Überschreitung ein Künstler verdrängter Aspekte der Existenz.

(Gekürzt und übersetzt von Robert Fleck.)


Michel Onfray, geb. 1959 in Argentan/Normandie, wo er nach wie vor lebt. Philosoph und Essayist, trat 1989 mit dem Buch „Der Bauch der Philosophen“ (deutsch bei Campus, Frankfurt am Main) her- vor, in dem er eine hedonistische Philosophie ausgehend von Nietzsche und den französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts als Ethik der Gegenwart konzipiert. Seit dem Buch „La sculpture de soi. La morale esthetique“ (1993, Grasset), für das er den renommierten Prix Medicis Essai erhielt, beschäftigt er sich mit dem „Wiener Aktionismus“ und anderen grenzüberschreitenden Kunstformen, wie zuletzt auch in „La raison gourmande“, einer Philosophie des Geschmacks und der Kochkunst (1995, Grasset). Die Originalfassung des Textes über Otto Mühl erscheint in der französischen Kunstzeitschrift „art press“, Paris.

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