Am 2. Dezember 1994 meldeten die französischen Tageszeitungen den Tod von Guy Debord. Er hatte sich am frühen Abend des 30. November das Leben genommen. In allen großen Zeitungen erschienen ausführliche Berichte über Debord, der die Presse zwei Jahre zuvor mit der Nachricht überrascht hatte, daß die Neuauflage sämtlicher Schriften des vorherigen Undergroundautors – vermittelt durch den ehemaligen Verleger Jean Jacques Pauvert – beim Prestigeverlag Gallimard erscheinen würde. Am 2. Dezember wurde auch bekannt, daß der Fernsehsender „Canal Plus“ am 9. Januar 1995 eine „Soirée Guy Debord“ ausstrahlen würde.
Diese Notiz erstaunte nicht nur, weil sie so präzise neben die Nachrufe plaziert war oder weil sie das etwas unbekanntere filmische Werk des Theoretikers in Erinnerung rief Debord hatte in seinem 1967 erschienenen, sehr einflußreichen Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ die heute von den Mediensoziologen banalisierte These vertreten, nach der die Konsumgesellschaft durch die allesbeherrschende Rolle der neuen elektronischen Massenmedien eine neue, eine „sanfte“ Form der Diktatur ausübe.
Sämtliche Filme von Guy Debord – er drehte insgesamt sechs – waren seit zehn Jahren von ihm selbst für jede öffentliche Aufführung gesperrt gewesen. „Nie und nirgendwo“, so ließ er auf Anfragen aus dem Ausland wissen, würden diese Filme nochmals zu sehen sein. Er hatte dies verfügt, nachdem sein Freund Gerard Lebovici in einer Pariser Tiefgarage regelrecht hingerichtet worden war und einige besonders schlaue Journalisten meinten, daß als Täter auch Debord in Frage käme, wobei sie dem Theoretiker gleich noch Verbindungen zum Terrorismus mitunterstellten. Die Freundschaft zwischen Lebovici, dem seinerzeit einflußreichsten Produzenten im französischen Film, und Guy Debord, dem radikalen Kritiker der modernen Warengesellschaft, war für die Lohnschreiber allzu reizvoll, Stoff für ein Lebensbild, wie es in amerikanischen Fernsehserien verwaltet wird.
„Canal Plus“ kündigte neben zwei älteren Filmen nun ein Porträt an: „Guy Debord, son art et son temps“, das auf seine Initiative und nach seinen Anweisungen von Brigitte Cornand kurz vor seinem Tod realisiert worden war. Damit hatte Debord, der ansonsten immer die absolute Konsequenz seiner Entschlüsse bewachte, eine weitere Entscheidung rückgängig gemacht: nie mehr einen Film zu drehen.
„Guy Debord, son art et son temps“ resümiert eingangs anhand bekannter Dokumente einige wichtige Stationen des Lebens von Debord, um dann einen ernüchternden Blick auf die derzeitige Gesellschaft zu werfen. Entgegen der Ankündigung hatte Debord auch dies mal kein Interview vor der Fernsehkamera gegeben und keine „letzte Aufnahme“ zugelassen. Er spiegelt vielmehr das Fernsehen an sich selbst: In sechzig Minuten komprimiert er alle möglichen Schreckensmeldungen, seien es nun die ganz offensichtlichen oder einige von der Art, die sich in der sanften Stimme eines Kommentators, in der nüchternen eines Wissenschaftlers oder in der etwas plumperen eines Politikers mitteilen, radioaktive Verseuchung, Waldbrände, Gewalt in den Vorstädten, Gefängniskultur, Aids, die Eloquenz der Medienarbeiter oder ihrer Vorgesetzten in der Regierung . . .
Der Theoretiker scheint wahllos in den täglichen Kreislauf der Bilder zu greifen und immer fündig zu werden. Die Wiederaufführung von zum sofortigen Verbrauch bestimmten Nachrichtenbildern nötigt ihnen eine Aussage ab, die so nicht beabsichtigt war wo es nicht klar genug ist, hilft Debord wie einem Stummfilm mit Texttafeln nach.
Vor allem aber diente dieser letzte Film Debords an dem denkwürdigen Fernsehabend als Einführung in den Film „La Societé du Spectacle“ (Die Gesellschaft des Spektakels), 1973 nach dem gleichnamigen, 1967 erschienenen theoretischen Hauptwerk von Debord gedreht. Dieser Film erscheint heute überraschend antiquiert, was man dem gleichnamigen, regelmäßig wiederaufgelegten Buch nicht so leicht attestieren würde. Soll man daraus folgern, daß sich Bilder schneller verbrauchen als Sprache? Ich würde vielmehr meinen, es liegt am Umgang mit Bildern, an der Auswahl und an er ihnen zugestandenen Macht, nicht an ihnen selbst.
Was Debord in der Buchform gelingt, entgleitet ihm im Film. Als filmische Montage soll „Die Gesellschaft des Spektakels“ das Bilderuhrwerk unserer Zeit sichtbar machen. Wie im „Mann mit der Kamera“ von Dziga Vertov möchte Debord sich in den unendlichen Alltag der Warengesellschaft stellen und die sich drehende Maschinerie ihrer Produktion abbilden. Er greift ihren unentwegten Ausstoß an Bildern auf und konstruiert einen Teufelskreis, dessen vier Hauptelemente eines ins andere greifen: die Ware, die Frau, der Krieg und die Produktion.
Das in Thesen angelegte, gleichnamige Buch von 1967 geht insofern ähnlich vor, als es den Begriff „Spektakel“ allmählich entwirft und das Elend der in diesem Begriff erfaßten Gesellschaft Schritt für Schritt sichtbar werden läßt. Die Kräfte dieser Gesellschaft treten in den Thesen des Buches wie Akteure in einem Schauspiel hervor, das das Drama ihrer Fesselung in der kapitalistischen Verwertungslogik auf führt. Debord läßt sie in seiner Sprache zu stillgestellten Standbildern zusammentreten, die die komplexen Vorgänge der Gesellschaft in einen ausweglosen Augenblick komprimieren, um das Elend und die Kritik einer Zeit mitzuteilen, die nicht von der Revolution erlöst wird.
In der filmischen Version von 1973 unterwirft sich die Debordsche These der „Gesellschaft des Spektakels“ dem Bewegungsgesetz des Films: Der Film dreht sich, wie die Bilderwelt der Konsumgesellschaft. Debord könnte den Film anhalten, wie es Jean Luc Godard in seinen „Histoire(s) du cinema“ versuchte, als er an den gestoppten Bildern nachprüfte, was sie uns sagen wollen. Doch gerade daß die massenmedialen Bilder uns überhaupt etwas sagen sollen, stritt Debord zeitlebens ab.
So blieb ihm nur die Akzentuierung der Geschwindigkeit, mit der sich die Bilder in unserer Gesellschaft auf ihren kalkulierten Verfall zu bewegen. Der Film endet mit Bildern einer Flutwelle und der unkontrollierbar gewordenen Naturgewalt, die zum Menetekel auf dem kleinen Schirm dieser Welt wird. Doch sind gerade Katastrophenaufnahmen in den zwanzig Jahren seit her banal geworden, wie immer neue Modekollektionen und Bilder nackter Frauen.
Als Film findet die Theorie von der „Gesellschaft des Spektakels“ keinen Ausweg aus der Medien welt, die sie beschreibt.
Roberto Ohrt, geb. 1953 in Chile, lebt als freier Autor, Kritiker und Ausstellungsmacher in Hamburg. Bekannt wurde sein Buch „Phantom Avantgarde“ über den Einfluß des „Situationismus“ auf die Avantgardekunst der fünfziger und sechziger Jahre (Edition Nautilus, 1990). Derzeit arbeitet er an einer Neuausgabe der Schriften der „Situationistischen Internationale“ (1958–1969), deren Leiter und führender Theoretiker Guy Debord war. Dieser Tage führt er die Filme von Guy Debord im Wiener „Art Club“ vor.
Symposion 06
Der Verschleiß der Bilder
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