Dialog: Otto E. Rössler, Peter Weibel und Cathrin Pichler
Die Überschrift scheint sich auf die Computerwissenschaft zu beziehen, wo in der Tat die Benutzerfreundlichkeit von Hochgeschwindigkeits-Software ins Kinderzimmer eingezogen ist. Doch das ist nicht unser Thema.
Es gibt ein zweites Interface. Das der Kunst, werden Sie sagen, das gibt es doch schon lange. Wieder ist es nicht genau das, was wir meinen. Die Höhlenzeichnungen der uns vor 30.000 Jahren voraufgegangenen Menschen werden zwar immer interessanter. Wenn man sich vorstellt, was sie alles hätten darstellen können, aber nicht gezeichnet haben, erkennt man eine tiefe Weisheit der Beschränkung. Aber auch dieses rückwärtsgewandte Thema ist nicht das unsere.
Welches Interface meinen wir dann? Natürlich das entscheidende. Aber welches ist das Entscheidende? Das Internet? Jetzt werden wir Ihnen nicht erzählen, dass wir vom Internet den nächsten Entwicklungssprung der Menschheit erwarten, wenn Gottfried Mayer-Kress und Louis Herman die hawaiianischen Delphine als Teilnehmer an das Internet angeschlossen haben werden, obwohl auch das eine entscheidende neue Technologie darstellen wird. Sondern wir gehen zum eigentlichen Interface über.
Es ist das Bewusstsein, werden Sie sagen, eine neue Manifestation desselben? Diesmal sind Sie ganz nah dran. Aber es fehlt noch etwas – die Physik. Zwar stimmt es durchaus, dass die Realität, die wir Natur oder Physik nennen, immer ein Teil des Bewusstseins ist – jede Realität existiert für den, der sie wahrnimmt, nur im Bewusstsein. Aber nein, wir wollen ganz normale Physik machen und dabei das Interface der Physik ins Auge fassen als unser Manipulationsobjekt.
Aber das gibt es doch schon. Die „Relativitäts“-Theorie vom Anfang des Jahrhunderts, das gerade zu Ende geht, ist doch auch eine Interface-Theorie. Der Bewegungszustand des Beobachters relativ zur Welt bestimmt die physikalische Realität: Wenn das kein Interface-Effekt ist.
Diesmal sind wir ganz einverstanden mit Ihrer Lesart unseres Vorschlags. Nur, wir setzen noch eine Kleinigkeit drauf. Wir interessieren uns nicht nur für das Makro-Interface der Relativität, wo der grobe („makro“) Bewegungszustand des Beobachters das Interface bestimmt. Das ist nur die gröbste erste Stufe. Es gibt noch eine feinere, die „Mikro“-Relativität. Das ist unser Heimatflughafen.
Also das „Mikrointerface“. Aber gibt es das denn? Jetzt haben wir endlich Ihr Interesse – und zugleich den Höhepunkt Ihrer Skepsis – hervorgerufen, nicht wahr? Das müsste doch bekannter sein, wenn es das gäbe.
Schließlich ruht ja alles auf einer mikroskopischen Basis, die wir heute mit Hilfe der Quantenmechanik beschreiben. Doch gibt es da das bekannte ungelöste Problem, dass die Quantenmechanik nicht mit der Relativitätstheorie verträglich („vereinigbar“) ist. Also Fehlanzeige.
Vielleicht. Wenn hier kein Abenteuer warten würde, wo läge das Interesse für die Kunst? Aha, sagen Sie, eine Außenseitertheorie? Nicht ganz. Sie ist voll anerkannt seit 42 Jahren unter dem Namen „Viele-Welten-Theorie“. Ach, darum geht es: dass sich das Universum spaltet, sobald einer eine Quantenmessung macht. In der einen Version des Universums zeigt der gemessene Spin (was immer das auch ist) nach oben, in der anderen nach unten, jeweils mit Folgen für die daran angeschlossene Katze?
Jetzt reden wir zwar von derselben Theorie, Sie, der Leser, und wir, aber wir sehen diese selbe Sache ganz anders an, als Sie es soeben noch getan haben. Nicht als eine abwegige unwiderlegbare Alternative, um etwas Altbekanntes zu beschreiben (den Formalismus der Quantenmechanik mit all seinen wunderbaren technologischen Anwendungen von der Supraleitung über die Nichtlokalität bis zum überlichtschnellen Tunneln), sondern als die neue Interface-Theorie.
Das musste ja kommen. Heutzutage wird ja alles als Interface verkauft – das macht sich optisch besser. Man redet dort, wo das Geld fließt. Also schnell ein neues Mäntelchen um etwas Altes, wenn einem nichts Neues einfällt. Warten Sie noch einen kleinen Moment ab.
Die Vielweltentheorie ist eine Vielinterface-Theorie. Das heißt: Welt = Interface. Punkt. Eine hammerschwere Gleichung.
Aber wir sind noch nicht fertig mit unserer Einleitung, die dann auch gleich der Schluss ist im Sinne eines Höhepunktes. Wo liegt die Pointe? In dem schmeichelhaften Gedanken der persönlichen Zuteilung einer mikroskopisch genauen Schnittstelle. Sie geht mitten durch unseren Kopf, von einem Ohr bis zum anderen, und durch die Zeit, wo sie gewöhnlich als Jetzt bezeichnet wird.
Doch bevor wir uns hierüber auf eine Diskussion mit Ihnen einlassen, fehlt noch der Bogen zu Everett (dem Erfinder der Vielweltentheorie) und der versprochenen neuen Technologie. Danach kommen wir sofort auf das Jetzt zurück. Einverstanden?
Was wurde aus Everett? Die letzten 26 Jahre seines Lebens (von 1957, als seine Arbeit erschien, bis 1983) liegen im Dunkeln, da sie gänzlich im Pentagon verbracht wurden, in der „Evaluierungsgruppe für Waffensysteme“, wie Murray Gell-Mann in seinem Buch (Das Quark und der Jaguar, 1994) schreibt. Das ist ein merkwürdiger Arbeitsplatz für den neben Einstein größten Physiker des 20. Jahrhunderts.
Ach ja – so erinnern Sie uns –, hatte er nicht nach unserer Aussage eine Mikrorelativitätstheorie erfunden, mit einem mikroskopisch genau spezifizierten Interface, „Welt“ genannt, und könnte diese Welt nicht manipuliert werden als bloße Schnittstelle? Das wäre dann eine Weltveränderungstechnologie, eine Art Weltbombe, nicht wahr?
Wir sollten auf dem Teppich bleiben und uns an das halten, was Everett wirklich gesagt – geschrieben – hat in seiner einzigen publizierten Arbeit, der „Relativen-Zustands“-Formulierung der Quantenmechanik, wie ihr Titel wörtlich heißt mitsamt den beiden Anführungsstrichen – nur auf Englisch. Es wird in ihr behauptet, dass die „Gesamtwellenfunktion“ des Universums immer aus zwei Teilen bestünde, dem für ein „Teilsystem“ gültigen und dem für den „Rest“. Das „Teilsystem“ ist der Beobachter – also zum Beispiel: Sie. Es stellt sich dann heraus, dass Ihre Teilwellenfunktion die Welt – den für Sie objektiv wahren Rest des Universums – mitbestimmt. Das war der oben angekündigte Hammer. Eine Geistesbombe, nicht wahr?
Aber die Quantenmechanik glaubt nicht an genau spezifizierte Sachen im Allerkleinsten? Doch, die Wellenfunktion ist etwas vollkommen Sauberes. Die Katastrophe (mit den bloßen Wahrscheinlichkeiten) stellt sich erst „nach dem Schnitt“ ein. Und die Wahrscheinlichkeiten werden hier nun eben mit Ihnen erklärt – Ihr eigener momentaner Fein-Zustand (den Sie natürlich nicht kennen können) erklärt das so unberechenbare Verhalten der Quanten-Welt.
Aha, also eine mikroskopisch genaue Interface-Theorie. Mit Nutzanwendung auf die Veränderbarkeit der Welt? Vermutlich gar durch das Aufsetzen einer Trockenhaube, mit einem Knopf zum Drehen für die Feldstärke und die Frequenz des Mikrowellenfeldes, wie beim Toaster? Besser hätten wir es auch nicht sagen können.
Aber das ist doch absurd. Eben war alles noch interessant und wissenschaftlich, und jetzt so etwas. Als ob man die Welt durch die Veränderung des Interfaces verändern könnte! Dann müssten ja Astronauten, die mit nahezu Lichtgeschwindigkeit fliegen, auch die Welt verändern können (denn was der kleinen Relativitätstheorie ziemt, sollte dem großen Bruder recht sein). Das tun die Astronauten auch. Sie kommen zum Beispiel nach einem Rundflug tausend Jahre nach ihrem Abflug vor einem Jahr zurück. Daran hat man sich gewöhnt. Das ist immer noch dieselbe Welt; nur die Zeit wurde manipuliert.
Der Schnitt durch den Kopf schließt automatisch auch die Zeit ein (wie erwähnt). Also eine Trockenhaube mit Zeitreise-Effekt? Sozusagen. Aber das ist doch erst recht absurd! Vielleicht auch nicht. Wir machen ja dauernd eine Zeitreise. In jedem Jetzt sind wir in einer anderen Welt. In der einen ist unser Freund noch am Leben, in der anderen nicht mehr, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber das sind wir gewohnt – was ist die Rechtfertigung, dass wir jetzt daran erinnert werden?
– Das vollkommen neue Weltbild, das Ihnen soeben untergeschoben wurde. Die Welt ist danach nicht die Welt, sie ist meine Welt. Für mich herausziseliert, durch eine geheimnisvolle Trennungsaktion in meinem Kopf – mit Jetztauswahlkompetenz. – Ein hübsches Märchen. Eine gesunde Skepsis macht sich wieder breit: Das Universum wäre ja dann gar nicht mehr wichtig. Denn dasselbe Universum würde viele verschiedene Schnitte zulassen. Wenn durch die Veränderung des Schnittes die Welt verändert wird, wäre eine Veränderung des Universums unendlich mal weniger wichtig.
Das ist richtig. Alle bisherigen Technologien hätten sich mit der unendlich mal weniger wichtigen Alternative beschäftigt. Das Universum wäre etwas, das man vergessen kann. Die Katze – der Schnitt – wäre gefragt.
Aber ist das nicht eine furchtbare Theorie, die alles Bisherige als Kleinigkeit abtut, nur um an seine Stelle eine neue Instanz zu setzen, die seit 350 Jahren erfolgreich aus der Wissenschaft getilgt worden ist? Nämlich eine demiurgische, zur Willkür fähige Instanz, die trotz aller „relationalen Konsistenz“ des Maschinenuniversums schaltet und waltet wie Zeus, der Hammerwerfer? Das „Sieb“ der Wissenschaft wäre dann auf einmal unfähig gewesen, den eigentlichen Saft aufzufangen. Der „eigentliche Saft“ wäre die Freundlichkeit des Messerschwingers, der den Schnitt fein säuberlich präpariert, ohne im Universum oder der Welt eine sichtbare Spur zu hinterlassen.
Nicht ganz. Obwohl die Mystik ihre Kompetenz zurückbekäme, bliebe ein Rest-Stachel aus dem cartesianischen Programm übrig: Die Kausalität. Obwohl in der Welt wieder Willkür (Schnittwillkür) wäre, wäre die Exteriorität gegen die Mitbewohner gewahrt. Ihnen gegenüber wäre man nach wie vor allmächtig, wie Descartes und Levinas erkannten. Und als Beweis für diesen gebliebenen Stachel könnte man nun sogar Hand an sich selbst legen, nicht im schlimmen Sinn (das geht merkwürdigerweise gar nicht, wie Levinas erkannte), sondern im Trockenhauben-Sinn von oben. Als innere Kopfwäsche sozusagen: Das Skalpell könnte „mitgeführt“ werden von der eigenen Hand.
Wir kommen zum Schluss. Die Hundeleinenwissenschaft hätte eine Bestätigung gefunden. Die Hundeleine der Kausalität hätte uns zu Herrchen geführt. Die „zweite Willkür“ neben der Festlegung des Universums selbst – ist der Schnitt. Er wurde in der Geschichte nur selten thematisiert. Archimedes, Boscovich, Everett sind beinahe die einzigen (wenn man von den Schultern, auf denen sie standen, Jakob, Buddha, Heraklit, Francesco, absieht). Die Medientheorie ist gefährlicher als gedacht. Obwohl kein Blut fließt, geht der Schnitt durch Mark und Bein und Schilling. Wenn eine Zeitmaschine etwas kann, dann reich machen.
Vielleicht fällt Ihnen, liebe Leser, aber etwas noch Wichtigeres ein, das man mit einer funktionierenden Schnittwissenschaft anstellen könnte. Die Medientheorie – die Theorie des Mediums Schnitt – ist jedenfalls farbiger als gedacht. Am Ende hat sie gar so viele Anwendungen wie das Allerunwichtigste im Leben selbst – die Kunst?