Treffsicher keine Politik der Zurückdrängung von Armut
„Neu“ regieren in der Sozialpolitik – Ablesbar am Programm des Regierungsübereinkommens, an der Budgetrede des Finanzministers und an diversen Stellungnahmen ist die Regierung von ÖVP und FPÖ angetreten, „neu“ zu regieren. Betroffen davon ist maßgeblich auch die Sozialpolitik. Inwiefern? Die proklamierten Zielvorstellungen laufen auf eine einschneidende Wende in der Sozial- und Gesellschaftspolitik hinaus. Einen Kernpunkt des inhaltlich-ideologischen Profils der neuen Regierung sehe ich in der annähernd durchgängigen Unterordnung der Sozialpolitik unter budget- und wirtschaftspolitische Prioritäten (Null-Defizit, Wirtschaftsstandortsicherung). Diese steckt den Rahmen für Änderungen in den sozialstaatlichen Leistungssystemen ab – in der Alterssicherung, aber auch bei anderen Sozialleistungen wie dem Arbeitslosengeld. Die Unterordnung steht in engem Zusammenhang mit der angepeilten Umorientierung staatlicher bzw. sozialstaatlicher Aufgaben und Ziele: Der Staat soll schlanker werden, was heißt, weniger Aufgaben wahrnehmen. In Worten des Finanzministers: „Unsere Vision ist ein schlanker Staat, der dem Bürger dient, ist mehr Freiheit und weniger Ge- und Verbote, ist mehr Eigenverantwortung und weniger Fremdleistung, ist eine offene und demokratische Gesellschaft freier Bürger“.
Der Staat soll sich demzufolge zurückziehen auf die Steuerung von Notlagen: Es soll denjenigen geholfen werden, „die unzureichend oder gar nicht zur Selbsthilfe fähig sind“ (Regierungsprogramm S. 18). Oder in Worten des Finanzministers: „Soziale Gerechtigkeit ist, wenn jene Hilfe erhalten, die sie wirklich brauchen und nicht alle, die sie wollen“ (Budgetrede vom 21. 3. 2000). Die angepeilte Zurückdrängung des Sozialstaates korreliert mit dem Plädoyer für mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge – Schlagworte, die bereits seit den 80er Jahren zum Fundus von ÖVP und FPÖ zählen, ihre Umsetzungswahrscheinlichkeit ist allerdings unter der veränderten Machtkonstellation ungleich höher zu veranschlagen.
Die gesellschaftspolitischen Vorstellungen dieser Regierung bzw. der Regierungsparteien sind damit insgesamt auf der einen Seite von neo-liberalen Prämissen getragen. Ihre Nähe zum Thatcherismus ist unübersehbar. Auf der anderen Seite weisen die Zielvorstellungen klar erkennbare konservative Züge auf, ablesbar beispielsweise an den Zielen der Förderung der klassischen Kernfamilie und der Nichtzurkenntnisnahme unterschiedlicher familiärer Konstellationen. Was eine derartige sozialpolitische Profilierung im Konkreten bedeuten kann, lässt sich an Themen wie soziale Treffsicherheit und Armutspolitik aufzeigen.
Workless poor und working poor – Bei Armut handelt es sich in reichen Ländern wie Österreich nicht um das „nackte Überleben“, sondern um eine substanzielle Beschränkung von Teilhabechancen. Diese hat verschiedene „Gesichter“: Einkommensarmut, beschränkter Zugang zur Bildung und Ausbildung, Wohnungsunterversorgung bzw. Wohnungslosigkeit, Armut von Frauen und Kindern. Konsens besteht auch darüber, dass die von Armut und Verarmungsrisken Betroffenen keine homogenen Gruppen darstellen, daß Armut vielfach „verzeitlicht“ ist, Verarmung oft eine Kumulierung von Problemlagen bedeutet. Als Ursachen von Armut werden durchwegs Erwerbslosigkeit, Haushalte mit mehreren Personen bzw. Kinderzahl, die abnehmende Schutzfunktion sozialstaatlicher Leistungen und fehlende bzw. unzulängliche Unterhaltsleistungen angeführt.
Das Ausmaß von Armut ist auch in Österreich beachtlich. Im Sozialbericht aus 1998 heißt es dazu: Bei rund 11% der Bevölkerung bzw. 900.000 Personen liegt das Pro-Kopf-Einkommen unterhalb der Schwelle von öS 8.600,- (60% vom Median-Pro-Kopf-Einkommen). „Nach Einbeziehung weiterer Indikatoren von sozialer Ausgrenzung in der Armutsdefinition sind insgesamt rund 4% der Bevölkerung bzw. rund 330.000 Personen als arm zu bezeichnen“. Unter Armut wird also ein Niedrigeinkommen zusammen mit Mängeln oder Einschränkungen (wie Rückstände bei periodischen Zahlungen, Substandardwohnung, Probleme beim Beheizen der Wohnung) verstanden. Betrachtet nach Lebensverhältnissen ist evident, dass Nichterwerbstätige und Arbeitslose besonders stark von Armut betroffen sind: 44% der 20- bis 60jährigen Armen waren arbeitslos oder aus anderen Gründen nicht erwerbstätig.
Wie wenig tatsächlich von einer Überversorgung beispielsweise von Arbeitslosen bzw. Notstandshilfebezieher/innen in Österreich die Rede sein kann, zeigen folgende Daten des AMS: Im Jahr 1999 lag die mittlere Höhe (der Median) des Arbeitslosengeldes gesamt bei 9.077,- öS (Männer 10.059,- öS, Frauen 7.445,- öS), der Notstandshilfe bei 7.449,- öS (Männer 8.224,- öS, Frauen 6.502,-). Wenn wir davon ausgehen, dass im gleichen Jahr die Ausgleichszulage (umgerechnet auf 12 Monate) öS 9.110,û betrug, so ist evident, dass große Teile der Arbeitslosengeld-, noch mehr der Notstandshilfebezieher/ innen ein Arbeitsloseneinkommen unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz haben. Der Ausgleichszulagenrichtsatz gilt als eine der Verarmungsschwellen in Österreich.
In der empirischen Armutsforschung gibt es zunehmend mehr auch Hinweise darauf, dass es nicht bloß workless poor, sondern auch working poor gibt. Georgi/Steiner konstatieren für Österreich im Jahr 1998: „Bei fast der Hälfte der Armen (ohne Pensionisten) ist der Haushaltsvorstand unselbständig erwerbstätig, bei über einem Viertel arbeitslos und bei ca. 10% selbständig erwerbstätig“. Eine Studie über Tirol von Gärtner u.a. kommt für das gleiche Jahr zum Ergebnis, dass 13,6% der Beschäftigten Einkommen unter der Armutsgrenze erzielten. Laut Wallner liegt bei Klienten/innen der Caritas in Österreich der Anteil von working poor bei 15%. Atypisch Beschäftigte, die im letzten Jahrzehnt auch in Österreich zahlreicher geworden sind – Teilzeitbeschäftigte, geringfügig Beschäftigte, Leiharbeitende, befristet Beschäftigte, scheinselbständig Erwerbstätige –, haben oft nicht nur schlechtere Arbeitsbedingungen, sondern auch schlechtere Einkommen. Nicht nur, dass beispielsweise bei Teilzeitarbeit das Einkommensniveau analog der Aliquotierung durchwegs niedriger ist, Teilzeitarbeit mit wenigen Stunden ist nicht existenzsichernd. Teilzeitbeschäftigte finden sich in den Niedriglohngruppen, die als working poor gelten können: So bezogen nach den Ergebnissen der Lohnsteuerstatistik 1996 insgesamt 20% der unselbständig Erwerbstätigen (ohne Lehrlinge) standardisierte Bruttoeinkommen von weniger als 12.000,- öS monatlich. Die negativen Folgen bei Beschäftigungsformen wie befristete Beschäftigung und Leiharbeit liegen vor allem auf der Ebene der Instabilität und Diskontinuität des Arbeitsverhältnisses – und damit der Diskontinuität in der Einkommenssicherung.
Atypische Beschäftigungsformen verstärken das individuelle Verarmungsrisiko. Es trifft zu, daß ein individuelles Verarmungsrisiko nicht schon immer eine reale individuelle Verarmung bedeutet – nämlich dann, wenn Niedrigeinkommen, niedriges oder überhaupt fehlendes Arbeitsloseneinkommen durch Einkommen anderer Familienmitglieder kompensiert wird. Ungeachtet dessen gilt, dass Armut immer fehlende bzw. mangelnde eigenständige Absicherung bedeutet. Vor diesem Hintergrund unübersehbarer sozialer Probleme könnte eine Debatte über die Reform des Sozialstaates, näherhin über die Treffsicherheit der sozialen Sicherungssysteme durchaus Anstoß zu einer näheren Beschäftigung mit Armut bzw. einer Politik der Armutsbekämpfung sein.
Anstoß für eine Politik zugunsten Armer und sozial Schwacher? Die seit dem Frühjahr propagierten Vorhaben der gegenwärtigen Regierung sind kein derartiger Anstoß. Es ist keinerlei Grundkonzept einer Armutspolitik erkennbar. Die ÖVP/FPÖ-Regierung spricht zwar von einer Politik der Zurückdrängung von Armut. Sie macht nicht nur keine, sondern vergrößert darüber hinaus mit einigen ihrer Vorhaben treffsicher das Verarmungsrisiko.
Das „größte und anspruchsvollste Reformprogramm für Österreich“ – wie es im Selbstlob der Regierung nach ihren ersten 100 Tagen hieß – hat für arme Menschen wenig Anspruchsvolles zu bieten. Im Regierungsübereinkommen ist nachzulesen: „Wir erkennen eine unserer wichtigen Aufgaben im Zurückdrängen von Armut . Anhand von Pilotprojekten sollen Erfahrungen gesammelt werden, wie weit die Beantragung und Auszahlung von Sozialleistungen bei einer einzigen sozialen Servicestelle, auf der Bezirksebene, im Sinne des ‚One-Desk-Prinzips’ einer modernen Sozialverwaltung angesiedelt werden können“. Die Armutspolitik dieser Regierung besteht somit ihrem Selbstverständnis nach im wesentlichen nur in einem Punkt, nämlich in der Vernetzung und Koordinierung bestehender Sozialleistungen von Bund, Ländern und Gemeinden. Zwischen dem postulierten Anspruch, dass jene Hilfe erhalten, die sie wirklich brauchen, und den geplanten Maßnahmen unter dem Deckmantel „Soziale Treffsicherheit“ klaffen Welten. Doch dies ist kein Zufall: Soziale Treffsicherheit wird im Regierungsübereinkommen in engem Zusammenhang sowohl mit massiven Missbrauchsvorbehalten gegenüber Bezieher/innen von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, als auch mit der Strategie der Reduktion des Budgetdefizits gestellt. Bevor noch die diesbezüglich eingerichtete Arbeitsgruppe zur Erhöhung der sozialen Treffsicherheit das erste Mal tagte, ging die Regierung von einem Einsparungspotential von 3 Mrd. öS aus. Im Budgetprogramm für die nächsten Jahre sind bereits 5 Mrd., nach Beschluss des Ministerrates vom 19. 9. bereits mehr als 7 Mrd. öS an Einsparung durch Leistungskürzungen vorgesehen. Unübersehbar ist: Es geht bei diesen Strategien in erster Linie um das Budget, nicht um die Treffsicherheit der sozialen Sicherungssysteme.
Der Befund von Armutsuntersuchungen lautet: Arbeitslose, Alleinerziehende, Personen in Haushalten mit mehreren Kindern sind von Armut in besonderer Weise betroffen. Geplante Maßnahmen der Regierung wie die Kürzung der Höhe der Familienzuschläge und die Einführung einer einmonatigen Wartefrist für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung im Fall der einvernehmlichen Kündigung sowie der Beendigung durch Zeitablauf von Dienstverhältnissen erhöht für Teile der Betroffenen das Verarmungsrisiko bzw. die Armutsbetroffenheit. Von der Kürzung der Familienzuschläge sind Arbeitslosengeld-Bezieher/innen mit Kindern und nicht-erwerbstätiger/m Partner/in betroffen. Wir wissen aus einer Studie über die Situation von Haushalten von Langzeitarbeitslosen (1992) wie wichtig die Familienzuschläge für die materielle Absicherung im besonderen bei niedrigen Einkommen und damit bei niedrigem Arbeitslosengeld sind. Dies wird auch durch den Bericht der Arbeitsgruppe „Erhöhung der Treffsicherheit des Sozialsystems“ von September 2000 unterstrichen: Familienzuschläge zum Arbeitslosengeld leisten „funktional einen wichtigen Beitrag dazu, das – angesichts der niedrigen Ersatzrate – Verarmungsrisiko bei auch nur vorübergehender Arbeitslosigkeit zu senken“. Die geplante Reduktion (von öS 663,- auf öS 400,- pro Monat) betrifft Niedrigeinkommens- bezieher/innen, vor allem auch Alleinerziehende mit unterhaltspflichtigen Personen verstärkt.
Hinsichtlich der Einführung einer einmonatigen Wartefrist wird ein beträchtlicher Teil der Arbeitslosen betroffen sein: 30% der Anträge auf Arbeitslosengeld folgen auf eine einvernehmliche Lösung des Dienstverhältnisses. Die Studie über die Situation von Haushalten von Langzeitarbeitslosen aus 1992 hat verdeutlicht, dass der Ausfall des Arbeitslosengeldes im ersten Monat von Arbeitslosigkeit nur von einem Teil der Betroffenen ohne materielle Schwierigkeiten bewältigt werden konnte, nämlich durch Einkommen anderer Familienmitglieder, Sparguthaben usw. Selbst dies heißt nichts anderes als die Verlagerung der Belastung auf andere Familienmitglieder. Betroffen von der Wartefristregelung werden in Hinkunft auch befristet Beschäftigte, d.h. vor allem auch Saisonbeschäftigte sein. Mehr als 20% der Anträge auf Arbeitslosengeld resultieren aus dem zeitlichen Ablauf von Dienstverhältnissen. Die materiellen Probleme von befristet Beschäftigten werden durch diese Maßnahmen noch verstärkt. Working poor plus workless poor. Das heißt, diese Maßnahmen werden vor allem auch Menschen mit geringem Einkommen und diskontinuierlichen Erwerbsverläufen, Alleinverdienende und Haushalte von Arbeitslosen mit Kindern treffen.
Konsequenz der geplanten Vorhaben? Nicht treffsichere Armutsvermeidung, sondern treffsichere Erhöhung des Risikos der Verarmung. Daran vermag auch das verbal behübschende Gerede von einer Abfederung bestimmter Maßnahmen bzw. das nachträgliche Infrage bestimmter Details des Ministerratsbeschlusses nichts zu ändern.
Insgesamt: In den letzten Jahren ist es gelungen, das Thema Armut auf die Agenda der öffentlichen und politischen Wahrnehmung zu setzen. Reale Politik hat – in Folge ihrer Prioritäten Budgetkonsolidierung und Wirtschaftsstandortsicherung sowie der Propagierung von mehr Eigenverantwortung – diesbezüglich wenig bewegt. Die unter der veränderten politischen Kräftekonstellation angepeilte Umorientierung der Sozialpolitik und die zur Zeit forcierten Vorhaben geben keinerlei Anlass zu Optimismus. Das Schüren von Misstrauen, die Strategie verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen, der massive Einsatz von negativer Solidarität (unter dem Slogan „Alle müssen Belastungen akzeptieren“, obwohl es nicht alle trifft) schafft keinen Boden, auf dem solidarische Politik, insbesondere für sozial Schwache möglich wird.
Treffsicherheit anders betrachtet – Die bestehenden Systeme im Hinblick auf soziale Treffsicherheit zu hinterfragen, könnte einhergehen mit dem Publikmachen von Ineffizienzen und sozialer Unausgewogenheit. Es könnte zudem bedeuten, Lücken und Handlungsbedarf zu eruieren, Prioritäten zu setzen. Empirisch ist nachweisbar, daß sowohl die Arbeitslosen- wie die Pensionsversicherung Lücken aufweisen und nicht durchgängig treffsicher sind: Viele Leistungen liegen unter der Armutsgrenze.
Meines Erachtens – und dies wird durch den Bericht der Arbeitsgruppe „Einbinden statt ausgrenzen“ aus dem Jahr 1999 untermauert – geht es heute in erster Linie um einen Umbau sozialer Sicherung in Richtung Ausbau der Instrumente der Existenzsicherung. Es geht um die Erweiterung des Systems dort, wo es zur Sicherung von Teilhabechancen der von Armut Betroffenen notwendig ist. Kurz gesagt: Es geht nicht um Statusverbesserung wie in den Nachkriegsjahrzehnten, sondern – unter den Bedingungen einer realen Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Sicherung von Teilhabechancen – um Existenzsicherung.
Diesbezügliche Schritte könnten die Vereinheitlichung der Standards in der Sozialhilfe, eine bedarfsorientierte Grund- bzw. Mindestsicherung im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unfall, ein Mindestsockel in der Arbeitslosenversicherung und eine Grundpension im Alter à la westeuropäische Vorbilder sein.
Emmerich Tálos
Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien
Forschungsarbeiten zu Sozialstaat, Armut, Sozialpartner, Faschismus
Jüngst erschienen: „NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch“ Hrsg.: gemeinsam mit Hanisch, Neugebauer, Sider.
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