TransAct 14

TransAct Statement I

Für ein Österreich als Vorreiter des sozialen Europas

Was kann ich den fortschrittlichen Österreichern sagen angesichts dessen, was ihrem Land widerfahren ist? Es ist natürlich schwierig, als Außenstehender das Wort zu ergreifen, ich lebe nicht in Österreich und ich bin kein Österreicher. Ich möchte aber die Österreicher wenigstens dabei unterstützen, sich gegen ganz bestimmte Erklärungen ihrer gegenwärtigen Lage zur Wehr zur setzen, gegen all die pharisäischen Lehrmeister, die mit ihren leichtfertigen Hinweisen auf eine schreckliche Vergangenheit die Augen vor der Wirklichkeit unserer Gegenwart verschließen. Ich glaube, daß die Bezüge, die man in vielen westlichen Ländern zu Hitler und dem Nazismus hergestellt und mit denen man einen hysterischen Boykott begründet hat, auf Vorverurteilungen und unbedachten Gleichsetzungen beruhen, daß sie oberflächlich sind und daran hindern, die Besonderheit dessen zu verstehen, was hier geschehen ist. Stattdessen sollte man wirklich ernsthaft den Ursachen nachgehen, die den Aufstieg dieser gleichzeitig so unbedeutenden und abstoßenden Figur ermöglicht haben, deren Namen ich hier nicht nennen will (und wenn ich überhaupt einen Rat geben kann, vor allem den Journalisten und Intellektuellen, dann ist es eben der, diesen Namen nicht auszusprechen). Es geht also darum, mutig und offen danach zu fragen, was getan oder auch unterlassen wurde, das diesen Aufstieg ermöglicht hat, nicht um die Verantwortlichen zu verurteilen oder bloßzustellen, nicht um Lehren zu erteilen, sondern vielmehr, um daraus Lehren zu ziehen.

Wenn man unbedingt Entsprechungen zu diesem Fall finden möchte, dann sollte man nicht in den 30er Jahren suchen, sondern auf die jüngste Vergangenheit sehen, zum Beispiel in die USA, etwa auf die Figur eines Ronald Reagan, eines Leinwandschönlings und zweitklassigen Schauspielers, immer wohlgebräunt und sorgsam frisiert, wie heute jener andere, den ich nicht nennen will, und wie dieser ein Verfechter ultranationalistischer, ultrareaktionärer Ideologien, eine willfährige Marionette im Dienste konservativster ökonomischer Interessen. Es sind dies die schicken – oder besser kitschigen – Verkörperungen eines radikalen Laisser-faire, das die ökonomischen Kräfte bedenkenlos gewähren läßt. Man könnte mit Thatcher fortfahren, aber auch gleich auf Tony Blair verweisen, der sich heute, wie eben in Lissabon, in europäischen Fragen noch reaktionärer gebärdet als ein rechter französischer Staatspräsident.

Aber wenn man nicht nur nach Entsprechungen oder Vorbildern fragt, die alle nicht sonderlich viel erklären, sondern nach Ursachen und Verantwortlichkeiten, dann muß man bei der großen internationalen Politik anfangen, mit dem völligen Sieg eines unumschränkten Neoliberalismus, der durch den Zusammenbruch der Sowjetherrschaft noch beschleunigt wurde. Denn dieser Neoliberalismus ist nur die schlichte, frisch getünchte Maske einer urtümlichen konservativen Ideologie, bedeutet eine konservative Revolution, die sich, gerade auch in den Medien, nun auf der Höhe des Zeitgeschmacks darstellt. Die ungeteilte Herrschaft des Neoliberalismus in Europa und in der gesamten Welt hat eine ganze Heerschar ratloser, entmutigter Menschen hervorgebracht, die aus enttäuschter Hoffnung bereit sind, sich dem erstbesten Demagogen auszuliefern. Und wenn derartiges möglich wird, dann deshalb, weil man in Gesellschaften wie etwa den USA soweit gekommen ist, daß mittlerweile mehr als 50% der Wahlberechtigten auf die Stimmabgabe verzichten, weil man es mit einer allgemeinen Entpolitisierung zu tun hat. Die entfesselten Mächte der Ökonomie werden sich selbst überlassen und die Medien stellen sich in den Dienst jener Kitschfiguren, die sich dadurch allen Anschein politischer Machtfülle geben können und doch gleichzeitig diese allgemeine Entpolitisierung verkörpern, zu der sie selbst beitragen.

Den Medien kommt hier ganz offensichtlich eine ungeheure Bedeutung zu und ich denke, daß gerade ein medialer Boykott der extremen Rechten hier sehr wirkungsvoll wäre. Man hat das in Frankreich mit Le Pen gesehen, der von dem Tag an, als die Medien seiner überdrüssig wurden, fast völlig von der Bildfläche verschwand. Es ist kein Zufall, daß zwischen der Präsenz in den Medien und dem Abschneiden bei Meinungsumfragen ein enger Zusammenhang besteht. Das will nicht heißen, daß es nicht einen unausrottbaren, harten Kern militanter, organisierter Rechtsextremisten gibt (ich denke, das ist in Österreich ebenso der Fall wie in Frankreich), die zwar gefährlich bleiben, aber letztlich eine sehr kleine Minderheit bilden und nicht mit all den Menschen über einen Kamm geschoren werden sollten, die doch vor allem den Mystifikationen erliegen, mit denen sich die Medien zu Komplizen der Meinungsumfragen machen.

Es gilt also, ohne ein kollektives mea culpa anzustimmen, das lächerlich wäre und zu nichts führt, diesen Ursachen nachzugehen, um daraus Lehren ziehen zu können. Es gibt ja nicht nur die Journalisten, sondern auch die Intellektuellen, die nun endlich aufzuwachen beginnen. Gerade sie sollten sich fragen, wodurch sie zu Kollaborateuren, zu Komplizen dieser Entwicklung geworden sind, zumindest aufgrund ihres Schweigens oder ihrer Teilnahmslosigkeit. Und dann gibt es heute sozialdemokratische Parteien, die bis in das physische Erscheinungsbild ihrer Vertreter jenen nachahmen, den ich hier nicht nennen will, die sich der Sprache der extremen Rechten bedient, ihre Themen aufgegriffen, die von Nulltoleranz gesprochen haben. Bei uns in Frankreich hat ein sozialistischer Staatspräsident von einer Toleranzschwelle gesprochen. Wir haben nun einen sozialistischen Premierminister, der gesagt hat, man müsse sich nicht mit jedem Elend der Welt beschäftigen. Und diese Parteien haben sich nicht nur aus dem Vokabular des Neoliberalismus bedient, sie haben auch, aus reiner Demagogie, mit Blick auf die Meinungsumfragen, immer wieder die abstoßendste Sprache des faschistoiden Extremismus übernommen. Angesichts dieser Entwicklungen steht heute jedes kritische Denken vor immer größeren Schwierigkeiten. Aber wir müssen damit weitermachen. Ein wenig beschleicht mich Scham, von solch gewichtigen Dingen zu sprechen, aber es ist einfach nicht leicht, all das auf einen Schlag und aus der Ferne zu durchschauen. 

Was kann man nun gegen diese konservative Revolution tun? Zunächst natürlich den symbolischen Kampf aufnehmen, gerade jene kollektive Arbeit vorantreiben, die sich mit den Ursachen und Erscheinungen dieser konservativen Hegemonie beschäftigt, und dann, etwa mit Unterstützung von Künstlern wie Hans Haacke, neuartige und wirksame symbolische Aktionen entwickeln. Man kann aber auch versuchen, neue Strukturen des Widerstandes und insbesondere eines neuen Internationalismus zu schaffen, die sich jenem dumpfen Nationalismus entgegen stellen, der zum Lachen Anlaß gäbe, wenn er nicht gleichzeitig so tragisch wäre. Der Internationalismus ist natürlich in Verruf geraten, weil sich die sowjetischen Regime seiner bedient haben, aber ich glaube, daß heute in allen Ländern die vielen Opfer des Neoliberalismus die Notwendigkeit erkannt haben, sich über die Grenzen hinweg zu verbünden. Wenn es etwas gibt, das sich globalisiert hat, wie es das Modewort will, dann sind es die neokonservative Ideologie und die internationalen ökonomischen Mächte, die sich in ihr ausdrücken. Diesen Kräften gilt es einen internationalen politischen Widerstand entgegen zu setzen. Wir haben seit etwa zwei Monaten den Gedanken aufgebracht, zusammen mit einigen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, möglicherweise sogar in England, eine Charta der sozialen Bewegung in Europa auf den Weg zu bringen, oder besser gesagt: zunächst eine große Versammlung aller Bewegungen, natürlich der Gewerkschaften, aber auch anderer Gruppen (Arbeitslose und Arbeitsuchende, Menschen ohne Bleiberecht oder Wohnsitz), die diese Charta für einen europäischen Sozialstaat ausarbeiten soll und gleichzeitig – aber selbst das ist schon Utopie – die Grundlage für eine europäische Sozialbewegung sein könnte, eine Bewegung, die in jedem Fall links der sozialdemokratischen Parteien stünde, deren Politik in einem gewissen Sinne schlimmer ist als die Konservativen, weil es dieselbe Politik in anderem Gewande ist und dazu beiträgt, die Kräfte der Kritik zu lähmen und zu täuschen.

Was kann aber Österreich bei all dem tun? Vielleicht könnte das Mißgeschick Österreichs gleichzeitig ein Chance sein, für Österreich und für ganz Europa. Ich will hier sicher keine paradoxe Umkehrung des Für und Wider betreiben, aber ich glaube tatsächlich, daß dieses Österreich, unvermittelt der Erfahrung ausgesetzt, wie aus Scherz bitterer Ernst werden kann angesichts der Möglichkeit, diese Marionette, die niemand wirklich ernst nehmen darf, könne schließlich die Macht übernehmen, daß dieses Österreich, das selbst aus dem Schlaf aufgeschreckt ist, ganz Europa aus dem Schlaf rütteln kann. Gerade hier sollten die Europäer zusammenarbeiten. Intellektuelle, Gewerkschaften, alle kritischen Bewegungen und Gruppen in Europa sollten sich nicht um irgendwelche Boykottvorschriften kümmern, sondern den progressiven Kräften zur Seite stehen, die in Österreich nun auf die Straße gehen, ich denke dabei insbesondere auch an die Jugend. Ich war verblüfft, in allen Filmberichten diese überwältigende Beteiligung der jungen Menschen zu sehen, von denen man sagt, sie seien unpolitisch, die aber doch nur vom Zynismus der Politik und dem Opportunismus der Politiker enttäuscht sind. Denn wenn der Faschistoide, dessen Namen man unaufhörlich ausspricht, den Opportunisten, das Chamäleon schlechthin verkörpert, so ist er doch nur ein Grenzfall jener Politiker, die im Laufe ihrer Karriere von der extremen Linken zur rechten Mitte übergewechselt und sogar noch weiter gegangen sind, und diese Kehrtwendungen dann in eine sozialistische Rhetorik kleiden. Diese Jugend, die man als enttäuscht, unpolitisch bezeichnet hat, erwartet eine politische Botschaft, die nicht, wie die der extremen Rechten, von solch schlichter Art ist wie: Das muß man tun oder So muß man es machen, ganz ähnlich den Erregtheiten des neoliberalen Laisser-faire, ohne aber auf der anderen Seite jenen falschen Realismus zu predigen, dem heute die sozialdemokratischen Handlanger einer neoliberalisierten Ökonomie huldigen.

Welche Botschaft also? Ich will hier sicher nicht aus dem Stegreif ein Programm entwerfen, aber wir werden dieses Vorhaben einer europäischen Charta, von der ich hoffe, daß viele Österreicher sie unterzeichnen werden, schon bald in einer ganzen Reihe europäischer Zeitungen – daß wir ihre Unterstützung bekommen, versteht sich nicht von selbst – der Öffentlichkeit vorstellen, am 1. Mai des Jahres 2000, einem durchaus symbolischen Datum. Wir werden im September oder Oktober ein Treffen veranstalten, auf dem diese zwischenzeitlich vorbereitete Charta besprochen und verabschiedet werden soll. Dann hoffen wir im März des folgenden Jahres eine große Versammlung in Athen einberufen zu können, die dann – auch das große Worte – so etwas wie Generalstände der Europäischen Sozialbewegung sein könnten, also einer internationalen politischen Kraft, die eine wirkliche Gegenmacht im Angesicht der wirklichen politischen Mächte wäre, gegen die nackte Macht der Ökonomie im Gewande neoliberaler, oder schlimmer noch: sozialdemokratischer Rhetorik.

Das war es also, was ich Ihnen sagen wollte. Ich bitte diejenigen um Verzeihung, die ich erstaunt oder entrüstet haben sollte, aber meine Überzeugung ist es, daß, selbst wenn es seltsam klingen mag, gerade Österreich und die progressiven Österreicher eine Vorhut jener Europäischen Sozialbewegung bilden könnten, die wir so dringend brauchen, um gegen die wirklichen Mächte zu kämpfen, die unsere Demokratie, unsere Kultur, das unabhängige Kino und die freie Literatur bedrohen, Mächte, zu denen jener, den ich nicht nennen möchte, nur als eine ihrer unbedeutenden und abstoßenden Begleiterscheinungen gehört.

Pierre Bourdieu
Collège de France, Chaire de sociologie


Paris, März 2K


Dieser Text wurde im Rahmen der Konferenz sektor3/kultur, veranstaltet von der IG Kultur Österreich, am 31. März im WUK/Kunsthalle Exnergasse präsentiert.

Übersetzung: Stephan Egger.

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