Vitus Weh: Guten Tag, Herr Weiner, ich freue mich sehr, daß Sie hier sind und ich mit Ihnen sprechen kann. Am Flakturm in Wien gibt es eine sehr große Arbeit von Ihnen und ich habe das Glück, sie täglich von meinem Küchenfenster aus zu sehen: Dort schreiben Sie in zwei Versionen, Deutsch und Englisch: „In Stücke zerschmettert – In der Stille der Nacht“. Worin besteht der Unterschied zwischen der englischen und der deutschen Version?
Lawrence Weiner: Englischsprechende können die englische Version und Deutschsprechende die deutsche Version lesen!
VW: Aha! Dann schlage ich vor, daß ich meine Fragen in deutscher Sprache stelle und Sie könnten in englischer Sprache antworten.*
Sie haben einige Tätowierungen am Körper; ich bin sehr gespannt, ob man das eventuell in einen Zusammenhang bringen kann mit Ihrer Arbeit, die Sie seit Jahrzehnten machen? Können Sie erzählen, seit wann Sie diese Tätowierungen haben und warum Sie sie angebracht haben?
LW: Okay, ich habe mehr als eine Tätowierung, aber das gehört nicht zur Sache. Ich beziehe mich oft auf die Arbeit, da sie doch in die Gesellschaft eingefügt ist, weil ich es vorziehe, vorhandene Strukturen zu nutzen, und wenn ich andere Strukturen verwenden muß, versuche ich, sie den Strukturen anzupassen, die innerhalb der Gesellschaft existieren. Eine Tätowierung ist wie das Mal Kains, das heißt, tatsächlich eine Anerkennung der Tatsache, daß man bereit ist, für etwas einzustehen, etwas, das man in die Gesellschaft einbringt. Meine eigenen Tätowierungen drängen sich eigentlich nicht als etwas auf, was mit Kunst zu tun hätte. Ich hänge nicht der Faszination vom eigenen Körper an oder vom Körper des Künstlers an sich, um vielleicht zu verstehen, worum es geht. Diese Tätowierung spricht für sich, es ist klar, was sie ist und wofür sie steht. Und sie steht nach wie vor dafür: Ich verstehe mich nach wie vor im Grunde als amerikanischer, aus der Arbeiterklasse kommender Sozialist, vielleicht ein idiosynkratischer Sozialist, nicht das, was jemand in Europa ist, der seinen Lebensunterhalt als Lehrer verdient und nicht diesen Sozialismus lebt, sondern der Vorstellung gemäß, daß jeder seinen Bedürfnissen entsprechend handeln sollte. Tätowierungen selbst sind eine Setzung innerhalb der Gesellschaft, eine Setzung von etwas, das, sobald es einmal da ist, auch wieder entfernt werden kann, aber das ist eine Höllenarbeit! Der einzige Grund, weshalb die Stadt Wien den Flakturm letztendlich akzeptierte, ist, daß es ungeheuer schwer ist, den Flakturm zu beseitigen! Der Flakturm selbst ist zu groß, außerdem können sie all die Fische nirgends unterbringen. In Wien gibt es eine Wohnungsnot und sie wüßten einfach nicht, wo sie die Fische unterbringen sollten. Aber was die Malerei betrifft: Wenn sie einmal oben ist, ist sie oben!
VW: Mir ist es auch – glaube ich – sehr wichtig, daß diese Arbeiten dort bleiben, und es ist ein bißchen ein Widerspruch eben zu diesem Vorurteil, das sich in der Concept Art ausgebildet hat, daß es nur auf die Idee ankommt. Auf diesen Punkt möchte ich eigentlich hinsteuern: Sie selber haben ja in Ihren Statements formuliert: „Das Werk kann hergestellt werden, das Werk muß nicht ausgeführt werden.“
LW: Oder: „Der Künstler kann es ausführen!“
VW: Oder: „Der Künstler kann es ausführen.“
LW: „Jede Möglichkeit ist gleichwertig und entspricht der Absicht des Künstlers. Die Entscheidung über die Art der Ausführung liegt beim Empfänger im Moment der Übernahme.“
Daraus ergibt sich eine interessante Frage – zuallererst: Was ist Kunst? Alle wollen nur darüber reden, in welcher Form jeder einzelne Künstler für sich in eine Hegemonie jener Vorstellungen einzupassen wäre, die sie von Kunstgeschichte und von Logik haben. Wenn man aber fragt: Was ist Kunst? – so ist Kunst in Wahrheit eine sehr soziale Tätigkeit. Da kommt jemand und macht etwas, was vorher existierte, aber nicht als Objekt, zu einem Objekt und das ermöglicht der Gesellschaft, die sich aus Institutionen bzw. Personen zusammensetzt, indem diese Verantwortung übernehmen, dieses Ding anzunehmen und in die Gesamtheit ihres Lebens zu integrieren. Wenn ein Museum ein Werk ankauft und in eine öffentliche Sammlung eingliedert und Menschen dieses interessant genug finden, um hinzugehen und es zu betrachten, dann fügen sie es in ihre Gesamtheit ein. Wenn man sich daran erinnert, wie man als Kind in einem Museum einen Caspar David Friedrich erlebt hat, dann war das: dazustehen, nichts über Kunst zu wissen, aber zu wissen, daß damit etwas erzeugt wird, was man als Metapher verwenden kann. Kunst soll keine Metapher sein! Kunst wird von den Leuten benutzt, die sie als Metapher verwenden werden. Das heißt, jemand, der kommt und etwas zu etwas anderem macht, das nie zuvor gesehen wurde und Menschen ermöglicht, es als einen Teil ihrer selbst zu erleben, das ist ein Künstler! (.)
VW: Diese Sätze sind nicht so gemeint, daß man die Arbeiten auch jeweils wieder einpacken oder wegräumen kann und sie dann an jedem anderen Ort, sei es jetzt eben ein ganz anderer oder ein so neutraler Ort wie ein Museum, wieder aufstellen kann. Sie haben schon etwas mit der sozialen Realität zu tun, in der sie aufscheinen?
LW: Sehr viel! Es war so, daß ich, als ich die ersten Ausstellungsmöglichkeiten bekam – ungefähr in den sechziger Jahren – entdeckte, daß etwas nicht stimmte mit der Art und Weise, wie Leute Kunst betrachteten. Ich hatte meine Helden und ich hatte die Leute, die ich, als junger Mensch aus der Arbeiterklasse, ziemlich mutig und ziemlich intelligent fand, wie zum Beispiel Barnett Newman und solche Leute. Aber gleichzeitig gab es eine Abhängigkeit und ein Sich-stützen-darauf, daß etwas deswegen etwas Besonderes war, weil die Person, die es geschaffen hatte, angeblich etwas Besonderes war. Sicherlich war diese Person gut in ihrem Tätigkeitsfeld. Die Sache mag etwas Besonderes sein, aber dadurch wird die Person nichts Besonderes. So begann ich zu begreifen, daß bei all dem Gerede über Kunst Faktum blieb, daß – solange das, was vermittelt werden sollte, vermittelt wurde – es nebensächlich war, ob die Künstler es selbst ausführten, ob es jemand anderer ausführte oder eine Person einer anderen davon erzählt hatte. Wenn man sich das in Hinblick darauf überlegt, was ein Buch ist, oder wenn man an etwas wie das „museum in progress“ oder ähnliches denkt, wo man etwas in der Zeitung findet, dann handelt es sich dabei tatsächlich nicht um die Präsentation von Kunst, sondern um die Präsentation des „Inhalts“ der Kunst. (.)
VW: Diese Wandinstallationen, diese Außenraum-Installationen, sind das die wahren Skulpturen, die Sie schaffen?
LW: Ja, Skulpturen.
VW: Oder ist diese Skulptur schon in der Galerie, wo das Projekt zum ersten Mal vorgeschlagen wird, schon völlig vorhanden?
LW: Es ist das gleiche. Es ist der gleiche Inhalt. Man akzeptiert all die Einschränkungen, die einem in einer Galerie auferlegt werden. Galerien sind etwas Seltsames – wenn es um zeitgenössische Kunst geht, um Kunst, die in unserer Zeit entstand, bevorzuge ich meistens kommerzielle Galerien gegenüber Museen, weil die Leute von der Straße hereinkommen können, sich ansehen können, was sie wollen, und wenn sie da etwas finden, können sie es verwenden, und wenn nicht, können sie lachen, sie können tun, was immer sie wollen, sie können auch gehen. In der Galerie gibt es keine Autorität. Eine Galerie ist bloß eine Boutique, sie ist ein Markt, ein Ort, an dem Menschen, die Dinge herstellen, diese Dinge ausstellen und sie zu verkaufen versuchen. Wenn jemand in ein Museum oder in eine Kunsthalle kommt, denken selbst Leute aus der Kunstszene, das sei eine Art Autorität – aber wessen Autorität? Ich war der Meinung, daß künstlerisch arbeiten ein Hinterfragen dessen impliziert, was allgemein passiert: Künstler machen Kunst, weil sie mit der Konfiguration der Welt, so wie sie sie sehen, unzufrieden sind. Und anstatt in die Rolle eines falschen Propheten zu schlüpfen oder eines falschen Politikers, präsentieren sie der Welt eine andere Realität, von der sie hoffen, daß sie das Bewußtsein dieser Welt verändern werde. Aber wenn man sich der Autorität einer Kultur bedient, von der man vorgeblich nichts hält, so ist das so ähnlich, wie wenn man sich in irgendeiner Form für Menschenrechte einsetzt und sich dann an eine erzreaktionäre Person wendet und erwartet, von ihr geliebt zu werden. Zu den Dingen, die ein Künstler lernen muß, gehört, ohne die Liebe jener Menschen auszukommen, die man haßt.
VW: Nochmals zurück zu diesem Unterschied zwischen Projektstadium und einer ausgeführten Arbeit im Außenraum: Die Skulptur ist also nicht dadurch eine öffentliche, daß sie eine Skulptur erst durch die Rezeption wird, daß man sie sieht, daß sie viele Leute irgendwie zur Skulptur, zu einer Gedankenskulptur formen, sondern sie ist schon als reine Schriftarbeit die Skulptur?
LW: Das ist eine sehr, sehr – ich sage es ungern –, eine sehr seichte Sichtweise. Ich sehe eine öffentliche Skulptur gerade am Flakturm, genauso wie ich ein kleines Abzeichen sehe, das jemand auf seinem T-Shirt trägt mit irgend etwas darauf, oder einen Hut mit irgend etwas darauf, oder das, worauf man mit Tätowierungen verweist. Es bedeutet, öffentlich eine Form der Information zu plazieren. Man darf nicht vergessen, daß jede Linie, die jemand zieht, Sprache ist, ein Versuch ist, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Kunst wird von Menschen für andere Menschen gemacht. Das heißt, sobald man ein Abzeichen trägt und ein Rock-Konzert besucht, sobald man ein Abzeichen trägt und damit auf die Straße geht, sobald man ein Schild mit der Aufschrift „Gegen Rassismus“ oder irgendeiner anderen Aufschrift trägt, stellt man eine öffentliche Skulptur her. Es ist ein Faktum, eine Realität. Sobald jemand ein Foto davon macht und es jemand anderem zeigt, sobald eine Person einer anderen davon erzählt, sobald jemand in einer Kneipe jemand anderem erklärt, was diese Leute mit ihrem Abzeichen oder mit einem Graffiti an der Wand vertreten, wird es zum Gegenstand – es ist dann klar. Da gibt es keinen Unterschied (.)
VW: Um nochmals einen Vergleich zu machen: Diese Bücher, die Sie machen – Sie haben sehr viele Bücher gemacht –, sind die dann eine Art „Soziales Tatoo“? Weil sie geschlossen werden können, weil man sie herholen kann, wenn man sie braucht, wenn sie einen angehen, wenn sie einen interessieren, und dann auch wieder zumachen und wegstellen?
LW: Das ist sehr merkwürdig! Weshalb können sie nicht einfach Bücher bleiben? Wissen Sie, das Interessante an einem Buch ist, daß man es aufs Klo mitnehmen kann. Man kann damit herumgehen und tatsächlich besteht das Problem mit Computern – ich mache gerade etwas für das Netz – hauptsächlich darin, daß die Leute an den Schalthebeln jederzeit den Strom abdrehen können. Innerhalb einer Minute ist es weg: Das war das Problem mit McLuhan, das ist der Grund, weshalb McLuhan letztendlich keinen Sinn machte. Man bindet sich an und verbündet sich mit Menschen. Einen Computer zu bauen, ist einfach, jeder kann das mit Dingen machen, die praktisch auf der Straße liegen. – es ist nicht so kompliziert – aber man kann nicht genug Strom erzeugen, daß man das ganze selbst betreiben könnte. Das heißt, sobald die herrschenden Mächte befinden, daß man nichts präsentieren darf, können sie ihn abdrehen. Ein Buch hingegen verscchwindet nach seiner Herstellung, es landet irgendwo in der Welt, man findet es unter Betten und in Schachteln.
(.) Wenn die Zeiten tatsächlich so katastrophal sind, wie es den Anschein hat, ist es äußerst wichtig, daß Künstler den Schutz der Institutionen verlassen und einen Weg finden, wie sie ökonomisch überleben können; und man kann nicht solchen Unsinn reden wie „ach, es ist so schwierig, ein Künstler zu sein“ und „es ist so schwierig, ein junger Künstler zu sein“. Es ist für jeden auf der ganzen Welt verdammt hart, seinen Lebensunterhalt zu verdienen! Und das gilt für einen Firmenchef genauso wie für einen Straßenkehrer. Es ist verdammt hart, das ist überhaupt keine Frage. Die Frage ist, wenn man von idiosynkratischem Sozialismus sprechen will, daß jeder Mensch ein Recht auf einen Ort hat, wo er leben kann, ein Recht auf Krankenversicherung, ein Recht auf eine Ausbildung und ein Recht auf eine Form von Menschenwürde. Es geht schlicht und einfach um die Idee, daß ein Künstler den Schutz der Institutionen verläßt und eine alternative Kultur aufbaut, Wege findet, diese Dinge laufend zu zeigen, ganz ohne jede Aggressivität. Die einzig notwendige Aggressivität besteht darin, sich gegen Menschen zur Wehr zu setzen, die einen daran hindern wollen zu sagen, was man zu sagen hat; nicht gegen Menschen, die einem kein Geld geben wollen, denn sie sind tatsächlich nicht verpflichtet, das zu tun. Wieso sollte eine gesunde Gesellschaft dafür zahlen, daß sie kritisiert wird? Wir wissen, daß es im Grunde zwar ein gutes Geschäft für sie ist, das zu tun, sie haben etwas davon. Aber sie sollten nicht gezwungen sein, es sollte keine Gesetze geben.
VW: Glauben Sie an Gruppen?
LW: Das ist eine verrückte Frage! Sicher glaube ich an Gruppen, sonst könnte ich gar nicht auf die Straße gehen. Wir sitzen hier zu viert in diesem Raum. Wenn man zu einer Vorstellung echter Primitivität zurückgehen will, dann gibt es genug Dinge, die Sie tragen, die sich in diesem Raum befinden, daß ich davon ein Jahr lang leben könnte. Wenn ich nicht an die Gruppe glauben würde, würde ich Sie alle drei umbringen, den ganzen Kram schnappen und von all dem Zeug leben.
VW: Mir scheint, Sie sind eher an einer Einzelperson interessiert als an einer „community“, eher an dem einzelnen Leser als an einem großen Publikum. Mir scheint, wenn es die Bücher gibt, gibt es auch eine Buchkultur, eine Leserkultur. Diese Leser sind immer vereinzelt, jeder Einzelne ist vor dem Buch, jeder bildet sich selbst.
LW: Ja, genau darum geht es.
VW: .und erzieht sich auch selbst.
LW: Aber wenn Sie jemandem davon erzählen, dann ist das wieder eine Gruppe, die sich nicht über die Literatur bildet, sondern über das Hören. Und weil Sie von der Gruppe sprechen: Ich glaube an eine Art idiosynkratische Notwendigkeit: (.) Sie bedeutet nicht, daß man gegen die Gruppe ist, wenn man die Tatsache akzeptiert, daß man selbst eine spezifische Verantwortung hat. Sobald man die eigene Verantwortung innerhalb der Gruppe akzeptiert, gehört man zur Gruppe. Es gibt keinen Grund, weshalb alle übereinstimmen sollten. Es gibt immer „No-Nos“, es gibt Dinge, die nicht gehen, das ist in der Kunst genauso. Es gibt Dinge, die man nicht tut – man beutet Menschen nicht aus um der Kunst willen und man bringt um der Kunst willen niemanden um. Man hat die Wahl. Wenn man Leute umbringen will, wird man Soldat oder Polizist oder Gangster oder Krimineller, man wird nicht Künstler. Aber das ist eine grundlegende Entscheidung.
VW: Sie sind kein Lehrer, aber Sie machen Seminare.
LW: Ja, „Sozialer Dienst“! Das ist es. Es ist wahr: wenn man an einem bestimmten Punkt angelangt ist – ich bin alt, ich stelle seit meinem achtzehnten Lebensjahr aus, seit 1960 –, kommt man an den Punkt, wo jemand auftaucht und sagt: „Ich entdeckte Ihre Kunst, als ich sechzehn, vierzehn war.und ich dachte dieses und jenes.würden Sie mit mir darüber sprechen?“ Na ja, es ist unmöglich, mit jedem der daherkommt zu sprechen und gleichzeitig seine eigene Arbeit zu machen. Also erklärt man sich ab und zu bereit – für wenig Geld, wie sich herausstellt – ein Seminar zu halten. Für mich ist es interessant, also habe ich nichts dagegen, weil ich weiß, daß alle Anwesenden am Thema interessiert sind. Ich hoffe, daß sie nicht bloß an mir interessiert sind. Das ist keine Bescheidenheit, es ist einfach nicht besonders interessant – ungefähr so wie: Ich weiß, was meine Meinung ist, weshalb also sollte ich um die halbe Welt fahren, um mich hinzustellen und genau dasselbe zu sagen, was ich davor schon gehört habe? Ich hätte wirklich viel lieber ein Gespräch. Also mache ich ein Seminar, um interessante Menschen kennenzulernen. Als ich jünger war, war es auch eine Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen. Aber einer Institution beizutreten, der Armee beizutreten, das ist eine wesentliche Entscheidung; das Papier zu unterschreiben, auf dem steht, daß man Armeemitglied ist und Autorität besitzt. Wenn ich – wie man das nennt – „unterrichte“, will ich eigentlich keine Autorität. Ich werde da bloß jemand sein, der. – das ist der Punkt – ich bin nicht besonders gebildet, ich habe ein gewisses Maß an Erfahrung in der Welt und ich will bloß in einer Situation sein, in der ich als das, was ich bin, akzeptiert werde und in der man über andere Dinge spricht.
VW: Sie haben auch den Kontakt zu einer Wiener Gruppe aufgenommen: „Die Damen“, mit denen Sie einige Aktionen, Performances gemacht haben. Jetzt haben Sie auch mit Frau Jürgenssen ein Buch herausgebracht, das präsentiert wird. Was können Sie dazu sagen?
LW: Ich bin ein Künstler aus New York und ich arbeite sowohl mit Musikern als auch mit Filmemachern und anderen Leuten. Ich bin es gewohnt, gemeinsam mit einer Gruppe von Leuten an einem „Projekt“ zu arbeiten, ohne daß ich dabei meine eigene, eigentliche Individualität aufzugeben hätte. Ich habe gewisse Fähigkeiten, die anderen haben gewisse Fähigkeiten und man kann zusammen etwas machen. Oder in politischer Hinsicht fand ich mich in einer Situation, wo ich mich mit „Die Damen“ in bezug auf Filme, etc. recht gut verstehe. Das Buch mit Birgit Jürgenssen. Birgit hatte diese Serie von Fotografien über Tätowierungen gemacht, eine Serie von Fotografien über ihr eigenes Verhältnis zur Welt – das Verhältnis einer Künstlerin, die ein gewisses Maß der Reife erreicht hat. Wenn Menschen ein wenig älter werden, erreichen sie einen Punkt, wo sie beginnen, andere Dinge wahrzunehmen. Und der Körper ist in unserer Gesellschaft ein wichtiger Wertfaktor – Menschen werden nach ihrem Äußeren beurteilt. Birgit arbeitete an dem Buch, wir redeten darüber – einerseits verstehe ich ein wenig vom Büchermachen und andererseits habe ich einige Fragen dazu: „Was ist pornographisch und was ist nicht pornographisch? Was ist Ausbeutung und was ist einfach ganz normal in sexuellen Verhältnissen zwischen Menschen? Ist es falsch, jemanden sexuell attraktiv zu finden?“ Wir stimmen alle darin überein, daß es falsch ist, jemanden zu vergewaltigen, aber eine Person sexuell attraktiv zu finden und sich den Hals nach ihr zu verrenken? Das ist eine offene Frage. Ist das falsch? Birgit und ich begannen also gemeinsam an diesem Projekt zu arbeiten, aber es sind Birgits Fotografien, es ist Birgits Identität und Birgits Vorstellung, sich ihren Platz in der Welt zu schaffen. Mein Platz in der Welt besteht darin, eine Möglichkeit zu finden, diese Information so zu präsentieren, daß sie sich vermittelt, daß jeder, der damit konfrontiert ist, sich seine eigene Meinung bilden kann, ohne meine Vorstellungen von Moral akzeptieren zu müssen. In diesem Sinn ist es für mich ganz normal, mit Gruppen von Leuten zusammenzuarbeiten. Aber das ist nur möglich unter der Voraussetzung, daß jeder einzelne davon immer seinen eigenen Weg geht. Es ist wie bei Musikern: Sie kommen zusammen und es entsteht etwas, es gibt eine Aufnahme-Session. Das bedeutet aber nicht, daß Willy Nelson Charlie Parker ist.
VW: Aber in Ihren Anfängen, 1969.
LW: 1967, ’68, vielleicht ’66.
VW: .da gab es Bücher, die Seth Siegelaub herausgab, da waren dann Beiträge von Robert Barry, Andre und von Ihnen, die waren immer getrennt, die haben sich nicht gemischt, das war keine richtige Zusammenarbeit, sondern eine Zusammenfassung.
LW: Das war eine andere Zeit und andere Dinge! Aber gleichzeitig arbeitete ich an kleineren Produktionen und Aktionen und Theatersachen zusammen mit anderen Leuten. Ich denke, ausschlaggebend ist nur das Produkt selbst und ob es sich um das Produkt einer Gruppe handelt. (.)
(Wien, Mai 1996)
* Im folgenden wurden die Fragen von Vitus Weh auf Deutsch gestellt und von Lawrence Weiner auf Englisch beantwortet.
KünstlerInnenporträts 52
Gespräch mit Lawrence Weiner
AutorInnen