Die Wiener Staatsoper hat einen neuen „Eisernen Vorhang“ erhalten, gestaltet von Cy Twombly, der seit über sechzig Jahren die Kunst der Gegenwart maßgeblich prägt. Das als Vorbild dienende Gemälde Bacchus ist eines der intensivsten Bilder, die der Künstler je geschaffen hat: ein Panorama aus leuchtend roten, ausladenden Schleifen und herabfließenden Farbadern, das einlädt, mit dem Auge die einzelnen Linienverläufe abzutasten und nachzuvollziehen: wo sie beginnen und auslaufen, wie sie sich überlagern und in Staccati abbrechen, um an anderer Stelle neu anzusetzen – jede Nuance der malerischen Spuren möchte als Formereignis wahrgenommen und genossen werden.
Um diesen Eindruck zu erreichen, hat Twombly den Akt des Malens als kontrollierten Zufall angelegt. Statt den Pinsel in der Hand zu führen, wurde er an einen langen Stock gebunden, wodurch die Verbindung zwischen Künstler und Leinwand gelockert wird. Die Linien sind nicht mehr im Detail kontrollierbar, werden sich selbst überlassen und entfalten ihre eigenen Launen. In den rhythmischen Wiederholungen der kreisenden Bewegungen entfaltet sich aus einer geradezu orchestralen Monumentalität eine furiose Dynamik. Sie verdichten sich, füllen das Bildfeld zum Bersten an und verlieren sich dabei immer wieder in den mitreißenden Schwung des Geschehens. Nicht zuletzt der Titel Bacchus erinnert an Friedrich Nietzsches Beschreibung des Dionysischen in seiner „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Man glaubt, der lustvollen Ausgelassenheit sich selbst überlassener gestischer Malspuren zuzuschauen, einem rauschhaften regressiven Taumel, der durch die Intensität der roten Farbe mit ihren Assoziationen an Wein und Blut und Feuer noch gesteigert wird.
Der 1928 in Lexington geborene Cy Twombly ist einer der einflussreichsten Künstler der Gegenwart. Ausgehend vom Abstrakten Expressionismus entwickelte er einen eigenwilligen gestischen Stil mit schriftartigen, „linkischen“ Zeichen, die er auf großformatigen Leinwänden ins Monumentale steigert. Kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts hat sich dabei so bedingungslos auf den „Nullpunkt“ der modernen Kunst eingelassen wie Twombly. Schreibübungen von Kindern, gedankenverlorenes Gekritzel und Graffitis auf Hauswänden dienen ihm als zeitgenössische Ausgangspunkte, um den Erfahrungsgehalt mythischer Erzählungen zu aktualisieren und einen Bogen zu den großen Themen der mediterranen Kulturgeschichte zu spannen. In den letzten Jahren hat Twombly ein beeindruckendes Spätwerk geschaffen – das 2005 entstandene Bild Bacchus, das nun den Vorhang der Wiener Staatsoper schmückt, ist eines der prominentesten Beispiele dafür.
Cy Twombly war schon früh mit Musikern und Tänzern befreundet, insbesondere mit John Cage, Earle Brown und Merce Cunningham. Die Ähnlichkeit seiner skripturalen Bildsprache zu graphischen Partituren und choreographischen Skizzen ist schon früh bemerkt worden, und so wundert es nicht, dass zahlreiche Musiker und Komponisten – von Morton Feldman bis zu Wolfgang und Christian Muthspiel – sich von Twombly inspirieren ließen. Die Fähigkeit der Musik, aus einem gegenständlichen Instrument (Holz, Metall, Darmsaite) einen immateriellen Ton zu erzeugen – diese Paradoxie zwischen bloßem materiellem Faktum und dessen Transzendierung ist auch für Twomblys Kunst in besonderer Weise virulent: Die rote Farbe, der Verlauf der gestischen Pinselstriche, die herabtropfenden Malspuren werden von Twombly in ihrer ganzen Buchstäblichkeit vorgeführt. Und doch weisen sie immer auch über sich selbst hinaus, verwandeln sich in imaginative Ereignisse und bilden ihre eigenen Phantasmen aus. So wird der neue Vorhang der Oper selbst zum Präludium der Stücke, in denen das Wechselspiel zwischen realem Geschehen und ästhetischem Schein sich ereignet.
Eiserner Vorhang 2010/2011
Cy Twombly – Bacchus
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