Vital Use 04

Zeitung als virtuelles Museum

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Ein Gespräch des Ausstellungsmachers Hans-Ulrich Obrist mit dem Verlagsleiter des „Standard“, Michael Sedivy

Hans-Ulrich Obrist: Schaffen Zeitungen Ereignisse?

Michael Sedivy: Jede Erscheinung einer Tageszeitung ist ein Ereignis in sich. Das ist das Wesen dieses Printmediums. Die Tageszeitung hat eine tägliche dramaturgische Aufgabe, die so anzusetzen ist, dass derjenige, der in diese Dramaturgie einsteigt, dort auch seine Erfüllung findet.

HUO: Der belgische Künstler Jef Geys gibt seit den 60er Jahren seine eigene Hauszeitung heraus und realisierte mehrfach künstlerische Arbeiten in größeren Tageszeitungen. Sein Beitrag zur Ausstellung „Vital Use“ im „Standard“ soll nun realisiert werden. Wo liegen die Grenzen des „Massenmediums“ Zeitung?

MS: Bei einer Tageszeitung bestehen die gleichen Grenzsituationen wie in jedem anderen Medium. Ein Medium kann so lange belastet werden, bis das Publikum nicht mehr mitmachen will oder nicht mehr in der Lage ist zu konsumieren. Diese Spielregel gilt für das elektronische Medium genauso wie für das Printmedium. Dabei kommt es auch entscheidend auf die Art des Printmediums an. Die Computer- und Internet-Zeitschrift „Wired“ z. B. geht durch Layout- und Topographie-Irritationen sehr weit, bis zur Unleserlichkeit, bis zum Unkonsumierbaren.

HUO: Im Falle der Musikzeitschrift „Ray Gun“ wird die Lesbarkeit durch Überlagerung und Überdeckung noch extremer gestört.

MS: Wenn Sie eine Tageszeitung kaufen, dann erwarten Sie innerhalb der vorgegebenen Dramaturgie eine Orientierungshilfe. Wenn diese Orientierungshilfe zu stark gestört wird, verlässt der Leser das Medium. Ein intensives Irritieren des Konsumations-Informations-Regelkreises kann das Produkt kaputt machen. Es geht eigentlich um ein Ausloten der Frage: Wo liegt die Grenze der Erträglichkeit, der Machbarkeit, der Plausibilität? Wenn Sie die Zeitung plötzlich in Zyrillisch drucken, ist sie nicht mehr konsumierbar. Dafür mag es noch so gute aktionistische Gründe geben, es zerstört die Kommunikationsebene.

HUO: Jef Geys hatte folgenden Vorschlag gemacht: Sphärische Grundformen sollten, in mattem, fast unsichtbarem Weiß jeweils in die Mitte einer Seite gestellt, den Text verschiedener Redaktionsbereiche unterminieren. Parallel dazu wollte Geys eine kleine Geschichte erzählen, die die Form erklärt – und wie die Schöpfungsgeschichte in acht Tagen abläuft.

MS: Es handelt sich um ein produktionstechnisch nicht lösbares Problem. Unabhängig davon ist eine Zeitung dieses eigentümliche, sich auf Doppelseiten darstellende Ding, an dem ich mich täglich orientieren kann, wo ich aus einer übergeordneten Perspektive die komplexen Zusammenhänge meiner Welt erkennen kann. Wenn ich jedoch auf die von Jef Geys „unterminierten“ Seiten schaue, sehe ich nichts mehr, finde ich mich nicht mehr zurecht.

HUO: Hans-Peter Feldmann versuchte seit den 70er Jahren, Bilder verschiedener Herkunft und Thematik ohne Kommentar ins Printmedium einzuschleusen. Im „Standard“ sind wir dieser Absicht sehr nahe gekommen, doch konnten die Bilder zuletzt doch nicht gänzlich ohne Kommentar und Logo, d.h. als nicht identifizierbare Objekte, erscheinen.

MS: In diesem spezifischen Fall muss es zu einer Distanz seitens der Redaktion kommen. Ich muss weiter ausholen. Um seinerzeit das museum in progress im „Standard“ zu positionieren, war eine Art trojanisches Pferd notwendig, das den Marketing- und den betriebswirtschaftlichen Aspekt durch eine Subzeile („Der Standard fördert mit dieser Einschaltung Kunst- und Kultursponsoring“) in den Vordergrund stellte. Das eigentliche Konzept des museum in progress, der virtuelle Museumsraum, wurde mitgetragen und erst durch einen späteren Aha-Effekt akzeptiert. Wäre am Anfang das Konzept ohne Zuordenbarkeit, lediglich in seiner reinen Abstraktion, auf dem Tisch gelegen, wären sowohl der Herausgeber als auch das Unternehmen aus mangelnder Vorstellung der komplexen Auswirkungen und Tragweite dagegen gewesen. Bei dem Konzept von Feldmann kommt das Dogma der journalistischen Freiheit sehr stark ins Spiel, deren Konsequenz heißt, dem Leser keine Täuschung zu vermitteln: Der Konsument vertraut darauf, dass alles, was er liest, dem redaktionellen Auftrag zuordenbar ist. Daher ist dieses vehemente Aufrechterhalten der journalistischen Freiheit, nämlich zu sagen, „ich Ressort, ich Journalist schreibe meine Zeilen, die von niemandem gesteuert sind“, ein Aufrechterhalten der Glaubwürdigkeit und damit der Kompetenz des Mediums. Wenn sich daher Elemente der Zeitung weder der Redaktion noch einem Künstler zuordnen lassen, riskiere ich das Projekt museum in progress. 

HUO: Bilder ohne jeden Kommentar und Zusammenhang würden von den Zeitungslesern jedoch wohl zu eigenen, selbständigen Geschichten verknüpft. Mit Marcel Duchamp könnte man sagen, dass die Leser in jedem Fall zumindest die Hälfte der Arbeit leisten.

MS: Gewisse Tageszeitungen haben das von Ihnen beschriebene Vorgehen zum Prinzip erhoben, um mit der nicht eindeutigen Zuordenbarkeit eines Bildes zu einem Text Dramaturgie zu erzeugen.

HUO: Welche Tageszeitung meinen Sie?

MS: In der auflagenstärksten Tageszeitung Österreichs wird häufig, sowohl auf der Titelseite als auch im Blatt selbst, neben einer großen Headline kontrapunktisch ein Foto plaziert, dessen nicht eindeutig zuordenbare Bildaussage zu einer eigentümlichen Assoziationskette beim Leser führt. Erst durch die Suche nach dem oft ebenfalls nicht gleich als zugehörig erkennbaren Bildtext kann der Leser die ungewöhnliche, manchmal absurde Assoziationskette auflösen. Das ist eine verdammt kluge Methode, Orientierungshilfe zu verkaufen.

HUO: Künstler sind Experten für Zwischenbereiche. In diesem Sinne sehe ich die proliferativen Kunstprojekte in der Tageszeitung auch als Chance zur Verschränkung der Arbeitsfelder innerhalb der Redaktion.

MS: Sie haben aus der Sicht des Verlegers zwei Zielgruppen: die der Leser und die der eigenen Mitarbeiter. Es ist ein hochinteressantes Phänomen, dass die Fotos von Feldmann in einer gänzlich textlosen Fassung vom Leser in der Zeitung relativ kommentarlos akzeptiert werden würden und damit sehr wohl der virtuelle Inhalt des trojanischen Pferdes transportiert werden könnte. Aber die eigenen Redakteure empfänden dies sofort als Sakrileg und Missbrauch ihrer Informationsfreiheit. Das hat aber nicht – wie von Ihnen behauptet – mit dem Verhältnis der einzelnen Ressorts zueinander zu tun, dies ist systemimmanent für Printmedien. Das Medium Tageszeitung ist eine überschaubare Informationseinheit, mit einem sich selbst regulierenden, geschlossenen Regelkreis. Im Gegensatz dazu hat z. B. das Medium Fernsehen a priori keinen inhaltlichen Produktionskonsens, kein geschlossenes konzeptuelles Auftreten.

HUO: An den bisher erschienen museum in progress-Projekten im „Standard“ fällt auf, dass die Beiträge gekennzeichnet sind und eine Art Rahmen schaffen. Der „Kunstraum“ ist als solcher klar zu erkennen.

MS: Dies ist eine Art von Redigierung einer spezifischen Information, die der Leser normalerweise in einer Tageszeitung weder erwartet noch bekommt. Daher bedarf es einer erklärenden „Gebrauchsanweisung“. Dadurch werden zwei Abgrenzungen vermittelt: Die eine zum nicht-redaktionellen Informationsort, einem kulturellen Ausruhplatz. Die andere: Es ist KEIN Inserat.

HUO: Wie sehen Sie die Zukunft der Zeitung als haptisches Objekt angesichts der elektronischen Zeitung, wie sie sich etwa im Internet andeutet?

MS: Da der „Standard“ die erste deutschsprachige Tageszeitung im Internet ist, wurde ich plötzlich mit dem Umstand konfrontiert, dass man auf dem Computer nicht wirklich mit Vergnügen lesen kann. Dem Computer fehlt diese haptische, produktbezogene Sinnlichkeit. Der Bildschirm schafft eben noch keine optimale Lesbarkeit und definiert damit eine Grenze des Konsumierens. Die dramaturgischen Regeln dafür müssen erst geschaffen werden. Daneben fehlt im Internet derzeit die Selektion nach Brauchbarkeit – denn zumindest 95 Prozent des Informationsüberflusses ist subjektiver „trash“.

(März 1995)

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