Symposion 09

Für eine realistische Utopie. Gespräch mit Edgar Morin

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Jean-Luc Hess: Anläßlich des 30. Kunstfestivals von Châteauvallon organisieren Sie eine internationale Tagung zum Thema „Für eine realistische Utopie“. Châteauvallon liegt auf den Anhöhen von Toulon, wo seit dem 25. Juni der „Front National“ regiert. Wie stehen Sie zu den Aufrufen, die vom „Front“ eroberten Städte kulturell zu boykottieren?

Edgar Morin: Daß ich hier bin und zu Ihnen spreche, zeigt daß ich das Festival im Nachbarort von Toulon nicht boykottiere. Daran dachten auch die Organisatoren nicht. Das einzig Sinnvolle war: Da das Festival Vertreter der Stadtverwaltung von Toulon im Aufsichtsrat hat, beschlossen die Veranstalter, sie auszuladen und auf jede Unterstützung aus Toulon zu verzichten. Das finde ich richtig. Wir stellen hier ja politische Grundsatzfragen: Was kann man tun? Sind wir dazu verurteilt, in den Tag hinein zu handeln? Was ist heute Veränderung? Ist die Hoffnung auf eine bessere Welt obsolet ? Das kümmert Toulon wie jede andere Stadt.

JLH: Der Leiter des Festivals meinte, seine Veranstaltung werde künftig eine Stätte des Widerstands, der „Résistance“ gegen den „Front National“ werden. Klingt das für jemanden, der wie Sie in der „Résistance“ im Zweiten Weltkrieg sein Leben riskierte, nicht hochgestochen?

EM: Das Wort „Résistance“ hat durch unseren antinazistischen Widerstand während der deutschen Besatzung einen sehr bestimmten Sinn erhalten. Doch ist dieser Begriff von allgemeinem Wert. Ich denke, das Leben besteht daraus, Widerstand zu leisten gegen Trägheiten, Konformismen, Klischees. Leben ist Widerstand gegen all das, was uns verdummt und unser Dasein banalisiert. Mir scheint also, daß das Wort „Résistance“, Widerstand, ein sehr schönes Wort ist, das man nur in der ganzen Vielfalt seiner Bedeutungen verwenden muß. 

JLH: Mit dem „Ende der Ideologien“ hat man den Eindruck, niemand wage mehr zu behaupten, er wolle die Welt verändern. Zugleich sprechen Sie von „realistischer Utopie“. Ist das nicht ein Paradox?

EM: Man hat die utopischen Ideen sehr zu Recht kritisiert: Die strahlenden und wunderbaren Visionen brachten, sobald sie diktatorisch und brutal auf die Bevölkerungen angewandt wurden, anstelle des vorgesehenen Glücks das Unglück hervor. In der Sowjetunion zum Beispiel. Nur darf man bei diesem Stadium der Kritik nicht stehenbleiben. Das ist zu bequem. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Kommunisten sich nicht als Utopisten verstanden. Im Gegenteil. Indem sie sich auf Marx beriefen, waren sie überzeugt, reinste Realisten zu sein. Der Marxismus hatte den „Utopischen Sozialismus“ verdammt, wie Sie wissen, und sich der wissenschaftlichen Methode unterworfen. Und so ist die Analyse dessen, was mit dem Verschwinden der Sowjetunion vor sich ging, nicht so einfach, wie es zunächst scheint. Es gibt Leute, die glauben, reinste Realisten zu sein, und sie sind in Wirklichkeit Utopisten. Also hat man nicht nur die Kritik der Utopie zu leisten, sondern auch die Kritik des Realismus.

JLH: Wenn Sie nun wieder von Utopie sprechen, werden Ihnen nicht viele Leute folgen.

EM: Ich glaube, es gibt eine schlechte Utopie, nämlich jene, die meint, die Vertreibung der Konflikte eröffne ein strahlendes Leben. Das sehen wir allenthalben. Doch wir sind auf der Erde. Es gibt Reibungserscheinungen, und Konflikte sind notwendig für die Vitalität einer Gesellschaft. Das Problem besteht darin, sie nicht gewaltsam, nicht physisch ausfallen zu lassen, und dazu bedarf es der Regulation der Demokratie. Doch die Idee einer perfekten Gesellschaft ist in meinen Augen furchterregend. Wenn man also auf die „Beste aller Welten“ verzichten muß, so darf man die Idee einer besseren Welt nicht auch gleich aufgeben. Zum Beispiel: Man sagt heute, ein weltweiter Friede sei eine Utopie. Doch logisch gesehen muß man fragen: Weshalb? Vor einigen hundert Jahren war es ebenso utopisch, einen Friedenszustand innerhalb eines großen Landes zu erhoffen. Gab es doch unzählige Feudalherrscher, die einander ständig bekriegten. Heute sind die entwickelten Länder mehr oder weniger befriedet. Und so ist auch die Idee eines Weltfriedens im Prinzip nicht unmöglich. Es ist derzeit gewiß wenig wahrscheinlich. Wir sehen nicht die Mittel, die uns dazu führen. Aber unmöglich ist es nicht. Das ist die gute Utopie. Sie gibt uns Werte und Ideen, die uns weiterbringen. Das zweite – und das scheint mir eben in Châteauvallon bei Toulon, der Stadt des „Front“ , sehr wichtig ist diese Idee des Realismus. Ich denke, daß sich heute wieder viele Leute für Realisten halten, einfach weil sie denken, daß man sich den Tatsachen notwendigerweise früher oder später beugen muß. Man kann unzählige Beispiele aus der Geschichte anführen, die das ad absurdum führen. Nehmen wir das Jahr 1941, als das nationalsozialistische Deutschland eine absolute Hegemonie über Europa besaß: Es stand vor den Toren von Moskau , Leningrad und dem Kaukasus. Damals schien es völlig realistisch, daß Deutschland ein europäisches Reich für zumindest hundert Jahre errichte, jedenfalls für einen langen Zeitraum. Doch dann brach es binnen zwei Jahren zusammen, und recht hatten die „Pseudo-Utopisten“ wie man uns scholt, die „Idealisten“, die in die Résistance gegangen waren. Dann wieder hielten sich jene für Realisten, die auf eine lange Lebenszeit der Sowjetunion setzten. In weniger als zwei Jahren war alles vorbei. Was heißt das also, Realist zu sein? Das ist heute wieder die Frage.

JLH: Ja – was ist für Sie heute ein Realist?

EM: Ich bestehe auf der Kritik der Utopie. Doch muß man auch sehen, daß die Pseudo-Realisten diese gar nie führen. Was wissen wir von dem, was sich heute ereignet? Die bedeutenden Ereignisse sind unterirdisch. Als man 1950 den genetischen Code entdeckte, horchte fast niemand auf, obwohl es zwanzig Jahre später das Leben revolutionierte. So war es auch mit der Atomstruktur, deren Entdeckung zehn Jahre später die Atombombe und die Atomenergie zur Folge hatte. Wir haben eine Art Unbewußtheit für das, was die Gegenwart ist. Und zugleich ist die Zukunft für uns heute wieder vollends unsicher geworden. Welcher „Futurologe“ würde derzeit noch Prognosen für das Jahr 2000 stellen, wie es vor zwanzig Jahren üblich war? Mein philosophischer Lehrer, Bernard Groethysen, ein emigrierter Deutscher, pflegte zu sagen: „Realist sein, welche Utopie!“ Also muß man über die Utopie hinausgehen, aber auch über den Realismus. Deshalb läßt der „paradoxe“ Ausdruck „Für eine realistische Utopie“ zumindest nachdenken.

(Übersetzung Robert Fleck.)


Edgar Morin, geboren 1921, lebt als Leiter des Instituts für Gesellschaftswissenschaften in Paris. Er wurde 1943 als kommunistischer Widerstandskämpfer zum Gegenpart François Mitterrands in dessen Résistance-Zelle gegen die nationalsozialistische Besatzung. Zunächst ein führender kommunistischer Intellektueller nach 1945, wurde Morin ab den fünfziger Jahren durch seine Analyse der politischen Strömungen im 20. Jahrhundert und durch seinen prononcierten Antitotalitarismus international bekannt. Heute gilt Edgar Morin, der gleicherweise in den USA wie in der Sowjetunion lehrte, als führender französische Soziologe der zweiten Jahrhunderthälfte neben Raymond Aron. Das abgedruckte Interview gab er zehn Tage nach dem Wahlsieg des „Front National“ in Toulon, Orange und Marignane – am 30. Juni dieses Jahres live im „Mittagsjournal“ des öffentlichrechtlichen Radios France-Inter.

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