Eiserner Vorhang 2023/2024

Die eiserne Zeit

Eisen... Eisen! Was wurde diesem chemischen Element, dem vierthäufigsten Urstoff der Erdkruste mit der bescheidenen Atomzahl 26, nicht schon alles zugeschrieben: Dauerhaftigkeit, Unzerstörbarkeit, der Zauber der Unbesiegbarkeit und in der Hand von Helden Macht und Herrlichkeit

Die Prähistoriker tauften ein Jahrtausende dauerndes Zeitalter nach dem Eisen. Dem verkrüppelten, gottähnlich verehrten Kindpharao Tut-Anch-Amun wurde als eine der größten Kostbarkeiten seiner Zeit ein Eisendolch in den Sarkophag gelegt und ihm so mit auf seine Nilfahrt in die Ewigkeit gegeben. Und selbst die Massenmörder eines vermeintlich tausendjährigen Reiches schmückten sich mit Eisernen Kreuzen zum Zeichen, daß ihre Herrschaft Äonen dauern würde – und die nach wenigen Jahren des Schreckens in Feuerstürmen unterging. In friedlicheren Zeiten sollte schließlich der Faltenwurf eiserner Vorhänge in Theatern und Opernhäusern nicht nur Bränden widerstehen, sondern die Wirklichkeit vom Spiel trennen, den Gesang vom gesprochenen Wort des täglichen Lebens, das gleißende Bühnenlicht vom Dunkel der Zuschauerreihen. Aber selbst diese Bestimmung schien dem wahren Charakter des Elementes Eisen zu widersprechen, dem Flüchtigkeit, Dehnbarkeit und Reaktionsfreudigkeit viel eher zukam als die gepriesene Beständigkeit. Das in seiner chemisch reinen Form dem Silber gleichende, ähnlich weiche und dehnbare Eisen verbindet sich mit mehr als 80 anderen Elementen zu Legierungen – nicht anders als das Getuschel im Parkett sich mit Arien und Hymnen verbindet, nicht anders als der Bühnenglanz mit den Lichtreflexen auf den Brillengläsern zu Tränen gerührter Zuschauer oder die eisernen Kreuze von Massenmördern mit den Symbolen der Erlösung.

Seine wahre Kostbarkeit scheint dieses Metall allerdings nicht aus den ihm vom Menschen zugedachten Eigenschaften zu beziehen, sondern von seiner himmlischen Herkunft. Denn lange, sehr lange vor dem Abbau und der Verhüttung von aus Stollen und Schächten gefördertem Erz, wurde Eisen allein aus Meteoriten gewonnen, den in Feuerstrichen niederregnenden Geschenken aus den Tiefen des Universums. An den Aufschlagstellen wurden Ritualgegenstände, sakrales Geschirr geschmiedet, Verbindungsglieder einer Kette in die Welt der Götter und Dämonen. Aber keine Waffen. Kein Werkzeug. Und keine bluttriefenden Ehrenzeichen.

Erst als Händler, Krieger und Fabrikanten mit ihren Bergwerken sich um das waffentaugliche Metall annahmen, ließen die Kinder einer neuen Zeit das Eisen zu tödlichen Instrumenten werden, schließlich zum Symbol für die Blutgier eines verkommenen Geschlechts. Und ein eisernes Zeitalter, die vorläufig letzte und grausamste Epoche der Menschengeschichte, nahm ihren Lauf.

Anselm Kiefer verhüllt den eisernen Vorhang eines als Staatsoper geführten Palastes mit einem Gemälde, das den literarisch zumeist höchst bescheidenen Libretti der Opernwelt eine überwältigende kosmische Geschichte gegenüberstellt. Das auf einen Roman des polnischen Meisters Stanislaw Lem verweisende Gemälde trägt den Titel des Buches: Solaris.

Solaris ist nach Lems Erzählung in einer fernen Zukunft ein Tausende Lichtjahre entfernter, um zwei Sonnen seine elliptischen Bahnen ziehender Exoplanet, der selbst die mit den letzten Geheimnissen der Quantenphysik seit Generationen vertraute terrestrische Wissenschaft vor unlösbare Rätsel stellt.

Denn Solaris scheint nur einen einzigen, Billionen und Aberbillionen Tonnen schweren Bewohner zu haben, der in Gestalt eines Inseln und Archipele umflutenden Ozeans einen Großteil der Planetenoberfläche bedeckt: Einmal gläsern schimmernd, unter bizarren Nebeln wogend oder schäumend, dann wieder gallertig oder dickflüssig glühend wie Lava wirft sich dieser Ozean zu symmetrischen und asymmetrischen oder wolkig erstarrenden und wieder in eine quecksilbrige Dünung zurücksinkenden Formen auf. Manche von ihnen ungeheuer und meilenhoch, andere vergleichsweise klein wie Flußpferde oder Mammuts. Verzerrte Abbilder, Karikaturen aus der Geschichte der Menschheit.

Die Astronauten, die Solaris in Schlafsärgen über Lichtjahre klaffende Abgründe des Raumes hinweg erreichen, müssen nach vergeblichen Forschungen erkennen, daß dieser Ozean möglicherweise eine dem menschlichen Bewußtsein himmelhoch überlegene, vielleicht aber auch bloß unzugängliche, stumme Geisteskraft verkörpert. Denn der Ozean ahmt mit seiner stürmischen oder ruhig glitzernden Oberfläche auch Gestalten und Formen aus dem Bewußtsein der Astronauten in allen Größenordnungen nach und läßt vor den Bullaugen der Landungsfähren eine Art Skulpturengarten hochschlagen:

Sehnsüchte, Träume, Ängste und Hoffnungen, ja selbst geliebte Menschen aus dem Arsenal der Trauer und Erinnerung, nehmen Form und Gestalt an. Schmerzhaft vermißte Geschöpfe beginnen im Formenreichtum dieses Ozeans zu sprechen, zu handeln und den Reisenden durch die Zeit jenen eisernen Vorhang vergessen zu lassen, der zwischen dem Diesseits und Jenseits in Sonnenstürmen schlägt. Im Wirbel ozeanischer Schöpfungen gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr, sondern nur noch den Augenblick, der alles, was vor ihm war und nach ihm sein wird, zunichte macht.

Und dieser Welten verschlingende und wieder ausspeiende Ozean, der in seiner Ungeheuerlichkeit und Allwissenheit die Gesamtheit der menschlichen Möglichkeiten nachzuäffen und sich an alles zu erinnern vermag, rollt nun in langgezogenen Brechern aus Kiefers Gemälde auf das in dunklen Reihen ein bloßes Singspiel erwartende Publikum zu.

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