raising flags

Flagge zeigen — Wesen und Erscheinungen eines Mediums

Die Verwendung der Flagge im Allgemeinen ist symptomatischer Indikator vieler gesellschaftlicher Fragestellungen, was sie wiederum zum spannenden Medium und zugleich zum probaten Objekt künstlerischer Beschäftigung macht. Gerade diese Tatsache hat es möglich gemacht, die Flagge an sich als Thema des Projektes raising flags zu wählen, ohne die eingeladenen Künstler*innen thematisch einzuschränken.

Die Herausforderungen der pandemischen Zeiten von 2019 bis 2022 haben gezeigt, wie umfassend in öffentlichen Räumen gedacht werden sollte, um künstlerische Inhalte besser transportieren zu können. Die Arbeit im museum in progress stellt die Frage nach herausragenden Aufgaben und adäquaten Lösungen für öffentliche Räume immer neu, weswegen es für mich naheliegend war, diese lang gehegte Idee an der Stelle einzubringen und gemeinsam umzusetzen. Die Vorteile der flexiblen organisatorischen Struktur von museum in progress als Institution und die direkte und rasche Umsatzbarkeit des Projekts geht einher mit einer potenzierten Wirkung durch die Signalhaftigkeit des gewählten Mediums. Pandemische Zeiten sind gewichen und neue umfassende Bedrohlichkeiten beschäftigen viele von uns. Immer neu vermag das von uns gewählte Medium, dem allgemeinen Geschehen inhaltlich entgegenzutreten.

An der Stelle, an der künstlerische Arbeit sich in der Situation des Wahrnehmens in unseren Gesellschaften befindet, gerade dort steht sie in der Verantwortung und zugleich im Privileg ihr Schaffenspotential aus dem Hinterfragen und Signalisieren gesellschaftlicher Prozesse sowie der (Selbst-)Reflexion zu ziehen, um ihr Umfeld zu bewegen – ein Moment also, um Flagge zu zeigen.

Das Wesen jeder Flagge ist naturgemäß ihre Bewegung im Wind. raising flags zeigt mit den präsentierten Flaggen fließende und sich ständig verändernde mehrdimensionale Aspekte eines Mediums in Bewegung. Selbst das Ausbleiben von Wind und Bewegung, damit der Stillstand, ist naturgegeben und nicht nur für diese Kunstflaggen ein interessantes Phänomen, da es noch lange nicht das Ausbleiben der Wahrnehmung einer Flagge als solche und ihres impliziten Signals in Bewegung bedingt.

In direkter Reaktion auf den Wind wird die Variation des Blickwinkels und die laufend wechselnde Erscheinungsform durch Bewegung der Flagge bestimmt. Die Phänomenologie seiner Wahrnehmung wird auf diese Weise fortlaufend neu geformt. Durch dieses unaufhörlich wechselnde, den Anblick verändernde, Erscheinungsbild entsteht kein zueinander gleicher abgebildeter Moment. Es wird vielmehr ein in unaufhörliche Bewegung versetzter Reflexionsraum evoziert, der weniger der Zeit entrissen ist, als er eher seinerseits das transportierte Kunstsignal wiederholt zum Leben erweckt und zu einem festen Bild formt.

Die fortwährende Veränderung der Wahrnehmung erweckt den Eindruck eines Signals, das seinen Inhalt erst durch den Eindruck seiner Modulation festzusetzen vermag, und aus immer neuen Perspektiven wahrgenommen werden will. Die Bewegung der Flagge setzt gleichsam die Reflexion der signalisierten Inhalte in Bewegung und lädt ein, das bewegte Medium aus immer neuen Perspektiven zu betrachten und zu reflektieren.

Kinetische Werke, die bewegte Bilder einsetzten, um ihre Botschaft zu vermitteln, gemeinsam mit anderen Formen bewegter Medien, die dynamische, zeitbasierte Elemente wie Video, Film, Animation, digitale oder interaktive Elemente verwenden, sind wie die Flagge nicht aus der Kunst wegzudenken. Ein wesentlicher gemeinsamer Aspekt vieler dieser kinetischen Formulierungen liegt in der Morphologie ihrer Wahrnehmung, in Wiederholung und Variation.

„Die Differenz ist zugleich der Ursprung und das Ziel der Wiederholung.“ – Gilles Deleuze

Aus dieser grundsätzlichen Phänomenologie entwickelte sich der kuratorische Ansatz möglichst großer konzeptueller Freiheit aller beteiligten. Die fortlaufende gemeinsame konzeptuelle Arbeit erschließt sich durch eine der Bewegung des Mediums vergleichbare diskursive Annäherung an den typologisch gewählten Fokus der Flagge als lebendige, mobile und entgrenzte Plastik, als bewegtes Medium. Dieser morphologische Blickpunkt zeigt, wie stark dieses Medium gängige Kunsterwartungen zu unterlaufen und universelle Bedeutungen zu signalisieren vermag.

Am Rande des potenziellen urbanen Bild-Kollaps ermöglicht das Medium der Flagge durch seine Wahrnehmung in Bewegung eine starke Präsenz. In den unaufhörlichen Bewegungsabläufen der Flaggen-Werke steht ein potenziell unabschließbarer Prozess der Betrachtung und Kontemplation im Vordergrund. Die wiederholte Repräsentation des einmal wahrgenommenen Momentes, des einen als kontingent erfahrenen Stücks Wirklichkeit, angesichts einer bewegten Flagge, führt zu einer veränderten Wahrnehmung ihres Kunstsignals. An die Stelle eines linearen Erfassens des Kunstwerkes tritt bewegte, vertiefende Resonanz, die eine Verschleifung von vorher und nachher, sowie von Wahrnehmung und Reflexion des bewegten Kunst-Signals beinhaltet. In vergleichbarer Weise beschäftigt sich schon Heraklit im 3 Jahrhundert mit diesem Thema der Wahrnehmung von Differenz und Wiederholung, was wiederum in direktem Bezug zur Vorgeschichte des Projektes auf der Wiener Stubenbrücke steht.

Aus der Zeit der Installation der Lemuren-Köpfe, 2001 von Franz West auf der Stubenbrücke ist ein bemerkenswertes Relikt erhalten geblieben. Franz West ließ 2007 am nordöstlichen Brückenkopf eine Sentenz Heraklits anbringen:

„Denen, die in dieselben Flüsse steigen, fließen immer neue Wasser zu und (immer neue) Seelen entsteigen dem Nass“.

So wie der Fluss zwar das Wasser ist, das ihn bildet, es aber immer wieder anderes Wasser ist, das ihn durchfließt und zum Fluss werden lässt, so sind auch der Anblick und die Form der Fahne sowie analog dazu auch der Wind stets gleich. Doch es ist immer wieder eine neue Erscheinung und frische Luft, die der Wind bringt – immer in progress und in neuer Reflexion, um Flagge zu zeigen.

Heraklits Einsicht war also nicht, dass sich alles ständig verändert, sondern vielmehr, dass in der ständigen Veränderung und im Wechsel der Bestandteile einer Sache eine Stabilität erreicht wird und eine Identität der Sache selbst erst möglich ist. Diese Stabilität der Veränderung ist es allerdings, die das (vermeintlich statische) Fortschreiten in einem wirklichen Sinn erst möglich macht.

Jede Flagge ist mehr als nur ein bloßes Stück Stoff. Die Einordnung der Kunstflagge als bewegtes Medium impliziert die Bewegung als Motiv schon vor Eintreffen des Windes. Die Bewegung ist also immanent im Objekt angelegt, was die Idee nahelegt, dass die Flaggensignale in Sprache und Bild niemals statisch sind, sondern einem kontinuierlichen Wandel unterliegen. In diesem Sinne bedeutet wiederholte Alteration nicht Monotonie, sondern vielmehr eine bewegungsverstärkte Reflexion, die jede Erfahrung und jede Rezeption immer wieder neu und anders erfahrbar macht.

Die Flaggen-Werke werden zu vielfältigen Auslösern für Emotionen und Reflexionen und laden ein, die Macht der Signale und ihre Wechselwirkung mit der alltäglichen Umgebung und unserer Wahrnehmung der Welt zu hinterfragen. Im größeren Kontext öffentlicher Räume sowie In Gegenüberstellung mit den jeweils anderen Flaggen-Beiträgen, die direkt oder indirekt in Resonanz zueinander stehen, wird es möglich, die Bedeutung des Mediums immer neu zu lesen.

Der Titel raising flags impliziert den gesellschaftlich-kulturellen Akt des Hissens einer Flagge – es entstehen dabei in einem weiteren Sinn Inklusionssignale der Kunst. Das Hissen einer Flagge ist ein symbolischer Akt, der in vielen Kulturen und Kontexten eine bedeutende Rolle spielt. Bei politischen Demonstrationen, bei Festlichkeiten und zeremoniellen Handlungen, militärisch wie zivil, sowie bei ihrer territorialen Verwendung zeigt sich die ausschließende Funktion von Flaggen. Bei der Verwendung für verschiedene Formen von Gemeinschaft, wie Land, Institution oder Organisation, schließt die Flagge im Moment des Setzens eben ausschließlich diesem Flaggensignal zugehörige ein. Sie wird also damit umgekehrt zu einem Signal des Ausgrenzens und des Ausschließens jener, die nicht als zugehörig gesehen werden. Im kulturgeschichtlichen Sinn ist die Flagge also exklusives Mittel von Gemeinschaften. Dieser exklusive Moment der Flagge wird durch raising flags konterkariert. Das Hissen einer Flagge als symbolischer Akt tritt in den Hintergrund, denn raising flags ist gemäß dem Wortsinn des „Flagge Zeigens“ nicht mit dem Hissen, sondern mit dem Zeigen der Flaggen befasst. Das gemeinsame Reflektieren kehrt den gewohnten Prozess der Exklusion um und wird zum inklusiven Akt, indem es einlädt, gemeinsam die Flagge der Kunst in den Köpfen der Betrachter zu setzen.

Momente der Inklusion werden in der Mitte vieler Gesellschaften gesucht und sind auch zum Beispiel in den Zielen der UN zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung verankert (UN–Sustainable Development Goals, Goal 16: Promote just, peaceful and inclusive societies, https://www.un.org/sustainabledevelopment/peace-justice). Symbole oder Flaggen inklusiver Art sind über gesellschaftliche und politische Initiativen wie Protest und Widerstand hinaus wenig bekannt. Das Phänomen Kunst-Flagge bietet sich durch seine Funktionsweise im Besonderenals Beispiel für inklusive Flaggen an.

Die oft vorherrschende heraldisch bedingte Tradition wird durch raising flags gänzlich gebrochen. Die Ortsbezogenheit des Mediums Flagge wird aufgelöst und zur grenzüberschreitenden Befragung gesellschaftlicher Inhalte verwendet. Abseits der Ausgrenzungen territorialer Flaggen werden die raising flags-Beiträge zu inklusiven Aufforderungen im universellen Wind der Kunstwahrnehmung.

raising flags – Flagge zeigen. Das Projekt ist bei kulturhistorisch konnotierter Betrachtung als Geste zu verstehen im Sinn einer bewusst eingesetzten Handlung, die Worte zu ersetzen vermag, um damit eine definierte innere Haltung auszudrücken. Die künstlerischen Inhalte von raising flags sind als Aufruf zur Reflexion und als gesellschaftliche Fragestellung eine sublimierte Kurzform verschiedenster Angebote. Signale der Kunst mittels dieser Flaggen zu hissen, eröffnet die Chance, inklusive Fragestellungen in öffentlichen Räumen zu platzieren und gemeinsam zu reflektieren.

(Alois Herrmann, April 2025)

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