raising flags

raising flags – Kunst, die bewegt

Stillstand ist keine Option, Bewegung ist gefragt! Von der Bewegung der Flaggen im Wind über die Bewegung im Kopf des Publikums bis hin zu gesellschaftlichen Veränderungen – das Projekt raising flags von museum in progress setzt genau hier an. Es nutzt die Flagge als dynamisches Medium, um Ideen und Haltungen in Schwingung zu versetzen und sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dabei wird der öffentliche Raum nicht nur als Ort der Präsentation, sondern als diskursiver Aktionsraum erschlossen, der gesellschaftspolitische Fragestellungen aufgreift, emotionale Reaktionen auslöst und zur Reflexion anregt.

Als Träger visueller Kommunikation spannen Flaggen einen weiten kulturgeschichtlichen Bogen: von ihrer Funktion als Erkennungszeichen und militärische Signale in der Antike über ihre Verwendung als heraldische Symbole und Insignien der Macht im Mittelalter bis hin zu ihrer Rolle als identitätsstiftende Projektionsflächen gesellschaftlicher Systeme in der Moderne. Heute, inmitten tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche, wachsender Konflikte und politischer Spannungen, begegnen uns Flaggen nahezu überall. Der in vielen Ländern erstarkende Rechtspopulismus spiegelt sich in der zunehmenden Instrumentalisierung von Flaggen als Symbole nationalistischer Identitäten wider. Sie dienen jedoch nicht nur als nationale Embleme, sondern werden auch bei Protesten geschwenkt, verändert oder sogar verbrannt. Flaggen definieren Gemeinschaften und stehen für eine Zugehörigkeit, die immer auch in Abgrenzung zu anderen Gruppen erfolgt. Sie markieren, wer dazugehört, und schließen andere aus, wodurch sie zu einem symbolischen Werkzeug der Ausgrenzung werden. In zahlreichen Ländern sind bestimmte Flaggen verboten – meist aus politischen, ideologischen oder ethischen Gründen. Besonders in autoritär geführten, antidemokratisch agierenden Staaten fungieren Flaggen auch als Mittel der Propaganda, Unterdrückung und Machtsicherung. Flaggen fördern die Identifikation mit dem Regime und eine Atmosphäre der Konformität. Sie symbolisieren die politische Ordnung und verstärken den sozialen Druck, sich mit deren Ideologie zu identifizieren. Gerade vor diesem Hintergrund erhält die künstlerische Auseinandersetzung mit der Flagge neue Relevanz. Die Kunst setzt der politischen Vereinnahmung dieses historisch aufgeladenen Mediums etwas entgegen und eröffnet einen diskursiven Raum für globale Perspektiven. raising flags transformiert die Flagge von einem Symbol der Ausgrenzung zu einem offenen Zeichen, das vielstimmige künstlerische Ausdrucksformen umfasst – integrativ, kritisch und verbindend.

Bisher haben 38 internationale Künstlerinnen und Künstler rund 70 Flaggen für raising flags gestaltet. Das Projekt wird an verschiedenen Standorten, in virtuellen Ausstellungsräumen online sowie in den Medienräumen von Zeitungen und Magazinen realisiert. Im Fokus der kuratorischen Arbeit stehen nicht künstlerische Positionen, die für ihre ikonischen Flaggen bekannt sind, sondern vor allem solche, für die das Medium Flagge neu ist. Auf diese Weise sollen ungewohnte Perspektiven auf dieses Medium eröffnet werden, anstatt bereits bestehende, vertraute Bilder zu wiederholen.

Die erste Projektphase von raising flags begann am 1. Mai 2023 – dem Tag der Arbeit, an dem traditionell zahlreiche Flaggen den öffentlichen Raum prägen. Unter dem Titel „Nation Flags of Ideas“ widmete sie sich Fragen des sozialen Zusammenlebens in herausfordernden Zeiten. Die Idee von Nationen und Zugehörigkeit wurde aus verschiedenen Perspektiven betrachtet – von der Erfahrung staatenloser Nationen bis hin zu Konzepten digitaler Kryptonationen, die traditionelle Grenzen in Frage stellen. Die Künstler*innen setzten sich mit Themen wie Klimawandel, Konsum und Kapitalismus auseinander und stellten Bezüge zwischen sozialen, politischen und ökologischen Krisen sowie gesellschaftlichen Machtstrukturen her. Religionen wie das Judentum und der Islam wurden als Ausdruck kultureller Identität reflektiert und in ihrer symbolischen Bedeutung hinterfragt. Dabei wurde auch die Transformation religiöser Symbole sowie deren Wahrnehmung im öffentlichen Raum behandelt, wobei politische Spannungen und der Missbrauch dieser Symbole ebenfalls thematisiert wurden. Auch der fragile Frieden und die Notwendigkeit, ihn aktiv zu bewahren, wurden in den Blick genommen. Mit diesen vielfältigen Themen regten die Flaggen der ersten Phase zur Reflexion über gesellschaftliche Verantwortung und gemeinschaftliches Handeln an.

„The essence of wind and the wind of change“, die zweite Projektphase von raising flags, begann im August 2023 und setzte sich mit der Metaphorik des Windes als Symbol für Veränderung und Transformation auseinander. Die Flaggen im Wind symbolisieren nicht nur die Dynamik von Veränderungen, sondern auch die anhaltende Spannung zwischen Stillstand und fortwährender Bewegung. Themen wie Sichtbarkeit und die Macht des Blicks wurden von den teilnehmenden Künstler*innen ebenso aufgegriffen wie die Funktion von Kunst als Kommunikationsmittel, das Raum zum Nachdenken und für öffentlichen Dialog schafft – eine Funktion, die auch die Flaggen von raising flags übernehmen. Die Auseinandersetzung mit Symbolen und Körperlichkeit, etwa in der Darstellung von Identität und gesellschaftlicher Positionierung, eröffnete neue Perspektiven auf die Wahrnehmung öffentlicher Zeichen. Zudem wurde die Frage nach der Verbindung von individuellen und kollektiven Prozessen der Transformation aufgeworfen. Die Flaggen dieser Phase nahmen Bezug auf die Herausforderungen der Gegenwart, indem sie sowohl politische als auch persönliche Dimensionen von Wandel und Widerstand gegen den Stillstand thematisierten. In beiden Phasen wurden jeweils zehn Flaggen entlang des Wien Flusses installiert, wodurch der öffentliche Raum von der Stubenbrücke bis zum Oskar-Kokoschka-Platz als Kunstzone sichtbar gemacht wurde.

Auf der hochfrequentierten Stubenbrücke in Wien werden seit dem 1. Mai 2023 alle drei bis vier Monate jeweils vier neue Flaggen präsentiert, die zentrale gesellschaftliche Themen wie globale Krisen, Migration, existenzielle Fragen und Notsignale aufgreifen. museum in progress hat mit der Stubenbrücke einen Ort für die Kunst zurückgewonnen, der über viele Jahre hinweg von den Lemurenköpfen von Franz West geprägt war – ein Werk, dessen Verlust für viele eine spürbare Lücke hinterließ. Die zahlreichen erforderlichen Genehmigungen für das Projekt stellten jedoch eine Herausforderung dar. So bewertete etwa die Magistratsabteilung 19, Abteilung Architektur und Stadtgestaltung, das Flaggen-Projekt als „sehr starke Beeinträchtigung der Wahrnehmung im öffentlichen Raum“ mit „massiver Präsenz“ und verweigerte zunächst die Zustimmung. Nach erfolgreicher Überzeugungsarbeit ebneten schließlich vier Magistratsabteilungen und das Bundesdenkmalamt den Weg für raising flags an diesem Standort.

Im Juni 2024 präsentierte museum in progress im Rahmen der sā Biennale, der größten zeitgenössischen Land Art-Ausstellung Asiens, eine Auswahl der Flaggen von raising flags in Ladakh in Indien. Die Werke wurden in 3.600 Metern Höhe inmitten der beeindruckenden Gebirgslandschaft des Ladakh-Gebirges und des südlich angrenzenden Himalaya auf Bambusstangen montiert gezeigt. Von Juli bis Oktober 2024 folgte eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem sommer.frische.kunst Festival, bei der über das gesamte Ortsgebiet von Bad Gastein hinweg insgesamt vierzig Flaggen gehisst wurden. Darunter befanden sich Arbeiten von fünf neu am Projekt beteiligten Künstlerinnen und Künstlern sowie eine Flagge im Riesenformat von 700 x 1050 cm, die oberhalb des Ortes an einem Maibaum befestigt wurde. Zur Eröffnung fand außerdem eine Flaggen-Performance mit Flug am Flying Fox über die Gasteiner Ache Schlucht und den Wasserfall statt. Als Erweiterung von raising flags präsentiert museum in progress digitale Werke zum Thema im Online-Ausstellungsraum „digital mip“. Einige dieser Arbeiten existieren sowohl als digitale Werke als auch in Form physischer Flaggen, während andere ausschließlich für den digitalen Raum geschaffen wurden. Darüber hinaus erscheinen in den medialen Räumen der Wochenzeitung Die Furche und des Magazins wienlive nach und nach ganzseitige Multiples zum Projekt.

raising flags wird kontinuierlich weiterentwickelt. Im Jänner 2025 fand eine Präsentation von siebzehn Werken in Ahungalla, Sri Lanka, in Kooperation mit der one world foundation statt. Während der finalen Phase der Publikationsvorbereitungen konnte im März 2025 auf Einladung des Eigners auf dem denkmalgeschützten ehemaligen Frachtschiff „Alma“ an der Seine im Herzen von Paris eine Flaggenparade mit einem Großteil der Werke von raising flags realisiert werden. museum in progress plant, das Projekt auch an anderen Orten fortzusetzen und weitere Kunstschaffende dazu einzuladen. Je nach Kontext, Standort und Infrastruktur kann raising flags in variierenden Konfigurationen und Umfängen gezeigt werden. Diese Publikation dokumentiert daher einen Zwischenstand innerhalb eines fortlaufenden Projektes.

Das Konzept von raising flags fügt sich nahtlos in die bisherigen Projekte von museum in progress ein, das seit 1990 mit rund 700 Künstlerinnen und Künstlern Ausstellungen in öffentlichen, virtuellen und medialen Räumen realisiert hat. Für seine unkonventionellen Ausstellungsprojekte definiert museum in progress temporäre Museumsräume, die sich als „Museen auf Zeit“ manifestieren – etwa an Gebäudefassaden, Feuerwänden, Baugerüsten, Plakatflächen, öffentlichen Screens, Bahnhöfen, in U-Bahn-, Bus- oder Straßenbahnstationen, in der Wiener Staatsoper, in Konzertsälen, Zeitungen und Magazinen, im Internet, Fernsehen oder sogar an Bord von Flugzeugen. Mit seinen ortsspezifischen und kontextabhängigen Interventionen wird ein breites Publikum in seinem Alltag erreicht und bewegt. Veränderung ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Museumskonzeptes, wie bereits im Namen von museum in progress zum Ausdruck kommt. Ohne Veränderung wäre die zeitgenössische Kunst, wie wir sie kennen, undenkbar, gelten doch Innovation und Originalität als zentrale Qualitätsmerkmale heutiger künstlerischer Praxis. Da erscheint es auch für Museen als institutionelle Träger der Kunst naheliegend, wandelbare Ausstellungsformate zu entwickeln und in Bewegung zu bleiben.

Das dynamische Medium der Flagge entfaltet seine volle Wirkung erst im Zusammenspiel mit Wind und Licht. Beide Elemente beeinflussen, wie die Flagge wahrgenommen wird, indem sie ihre Farben und Formen je nach den äußeren Bedingungen verändern. Somit oszilliert raising flags zwischen Materialität und Immaterialität. Flaggen sind raumgreifende, performative Objekte, die durch ihre Bewegung und Präsenz den Raum aktiv gestalten. Für museum in progress als weitgehend immaterielles Museum sind Flaggen eine ideale Ausdrucksform: Sie markieren einerseits einen Ort und definieren einen Raum, während sie sich zugleich in ständiger Bewegung befinden und über keine festen Grenzen verfügen. raising flags ist mehr als eine visuelle Setzung im öffentlichen Raum – es ist auch ein Aufruf zur geistigen und gesellschaftlichen Bewegung. Die Flaggen stehen für Offenheit, Veränderung und den Dialog über Grenzen hinweg.

(Kaspar Mühlemann Hartl, April 2025)

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