Oben: hohe Berge, spitz, zerklüftet und schroff. In den Felsen hängen Schneereste, der Himmel darüber ist wolkenverhangen. Anscheinend wurde an den Farbreglern gedreht, um das Nachbrennen der Farben vor dem inneren Auge zu simulieren, denn alles ist in ein surreal-technisches Blau-Rot-Grün getaucht. Darunter: ein künstlich angestauter See, eingeklemmt im Tal. Wie ein horizontaler Schnitt läuft die glatte Wasseroberfläche, auch sie seltsam rot gefärbt, durchs kantige Panorama. Noch eine Etage tiefer geht es – ein weiterer Schnitt, diesmal vertikal – hinein in eine dunkle Tiefe, durchzogen von länglichen Verzerrungen.
Der „Gipfel“ der Künstlichkeit aber schwebt darüber: ein Bild im Bild, der Output eines Magnetresonanztomographen. Auch hier hat man es mit einem erneuten präzisen Schnitt zu tun, diesmal mitten durch die Bauchhöhle, ein Standbild des Lebendigen. Man sieht darauf, was man eben so sieht, wenn man einen Bauch durchschneidet: das, was hält (die Wirbelsäule), das, was arbeitet (die Gedärme), das, was schützend umschließt (der Rumpf). Dazwischen: Leere. Es ist dein Bauch, meiner, unserer. Ein Menschenbauch.
Was hier am Eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper prangt und den prosaisch-deskriptiven Titel „Bauchhöhle überfliegt Staumauer“ trägt, ist ein Standbild aus einem gleichnamigen Videoloop – und insofern schon wieder ein Schnitt, ein arretierender, durch eine fortlaufende und kreisende Bewegung ohne Anfang und Ende. (Zwei weitere Standbilder wurden parallel übrigens in den Zeitungen „Die Presse“ und „Die Furche“ veröffentlicht.)
Schaut man sich diesen Film auf der Internetseite des museum in progress an, so sieht man, wie das MRT-Bild der Bauchhöhle Anlauf nimmt, über rosa Wasser und blaue Wiesen schwebt, dann hinaufsteigt über die Mauer eines Staudamms und schließlich als wabernde, sich drehende Form das Hochgebirge überfliegt, bis es am Ende zugunsten jener sich überlagernder bunter Blumenwiesen und ädrig strukturierter Blätter zurücktritt, vor deren Hintergrund der Flug bereits begonnen hatte. Ein großer Kreislauf. Auch diese botanischen Motive sehen aus wie die Gefäße eines Körpers – Nervenbahnen, die unablässig Informationen senden; Adern, die fortwährend Blut pumpen.
Im Schnitt gerinnt Bewegung zum Bild. Schnitte (und damit Bilder) sind insofern notgedrungen künstlich, trennen sie doch, was (vermeintlich) eins ist, öffnen, was doch (eigentlich) geschlossen und ganz wäre. Dabei erscheinen in Rists Arbeit für den Eisernen Vorhang doch schon die gewählten Motive selbst künstlich, auch wenn in sie „Natürlichkeit“ geradezu eingelassen zu sein scheint. Da wären die Berge, die Alpen, deren knallfarbige Überzeichnung hier beinahe vergessen lässt, dass auch das vermeintliche Postkartenidyll, für das sie seit dem Anbeginn der Moderne als schrumpfendes Ressort des Unberührten inmitten eines dicht besiedelten, hochindustrialisierten Kontinents stehen, menschengemacht ist. Und da wäre die Bauchhöhle, in die man hier dank der bildgebenden High-Tech-Verfahren der Medizin auf wundersame Weise blicken kann, ohne sie tatsächlich öffnen zu müssen.
Hier sitzt, der weitverbreiteten Vorstellung gemäß, jenes (Bauch-)Gefühl, dem man folgen soll – markiert als sprichwörtliche Gegenspielerin des Kopfes, als Ort, an dem man „bei sich“ ist, wie man so schön sagt, ohne wirklich den Finger darauf legen zu können, was das denn genau heißen soll. Bauch: Name für den ultimativen Ort der Geborgenheit, des Ursprungs, der Herkunft, des Entstehens. Sowohl biologisch, vulgär-psychologisch wie auch mythologisch weiblich konnotiert. Berge und Bauch also: paradigmatische Orte der Projektion, Gefühlscontainer und Taschen der Vorstellung. Rückzugsorte fürs Empfinden. Hier brutal aufgeschnitten.
Immer wieder hat Rist in ihrer bisherigen Arbeit Wege gefunden, das Innere eines (bzw. ihres eigenen) Körpers sichtbar oder erfahrbar zu machen: ob nun in einem clever geschnittenen Videoloop wie „Mutaflor“ von 1996, für den die Kamera oben anscheinend erst verschluckt wird, dann vermeintlich den gesamten Verdauungstrakt durchläuft, nur um unten wieder herauszukommen; in extremen Nahaufnahmen des Mundraums; oder im wiederholten Zeigen diverser Körperflüssigkeiten wie dem häufig auftauchenden (Menstruations-)Blut.
Ein Video aus dem Jahr 1992 ist „Bauchhöhle überfliegt Staumauer“ in Form, Aufbau und Inhalt dabei erstaunlich ähnlich. „Als der Bruder meiner Mutter geboren wurde, roch es nach wilden Birnenblüten vor dem braungebrannten Sims“ lautet sein ungemein poetischer Titel und es zeigt, vor dem Hintergrund einer idyllischen Berglandschaft, eine Geburt mit allem, was dazu gehört. Diese drastischen Szenen sind – formal an die fliegende Bauchhöhle erinnernd – nur briefmarkengroß vor die heile Postkartenwelt idyllischer Berge gesetzt. Die ungeschönten Aufnahmen aber punktieren und durchbrechen das mediale Klischee dennoch mit einer seltenen Wucht, stülpen die brutale körperliche Realität einer Geburt, die Schmerzen der Mutter, das blutverschmierte Kind und überhaupt diesen absolut irren und unumstößlichen Moment des Auf-die-Welt-Kommens sozusagen mitten aus ihm heraus. Die Bilder reißen auf und gebären ein weiteres Bild, ein Körperbild.
Demgegenüber ist „Bauchhöhle überfliegt Staumauer“ fast schon sublimiert, die unmittelbare Körperlichkeit in der farblichen Verfremdung und der Technizität des medizinischen Bildgebungsverfahrens aufgehoben. Und doch geht es auch hier um das Überschreiten von Grenzen, darum, sie einzureißen – Grenzen zwischen dem Körper und dem Ich, das in ihm sitzt, zwischen diesem verkörperten Ich und seiner Umwelt, belebt, bewohnt und gebildet von all den anderen verkörperten Ichs.
In einem kurzen Text schreibt Rist den hier gezeigten Bauch den Betrachter:innen zu, übergibt ihn den anderen, auf dass sie sich selbst in jene Höhle hineinprojizieren, die sie sich ansehen: „Das bist Du, während die Perspektiven über die Nabelschau und den Tellerrand hinaus eröffnet werden und Dein Inneres unentwegt Blut und andere Säfte pumpt.“ Die Betrachter:innen, ich, du, wir, werden mitgenommen. Die Reise, der Flug, führt über einen Stausee und über hohe Berge, spitz, zerklüftet und schroff, führt über einen eisernen Vorhang hinweg auf eine Bühne, auf der ganz reale Körper stehen und im Zusammenspiel mit Klang und Bühnentechnik große Gefühle schaffen. Gefühle, die wir gemeinsam erleben. Gefühle, die uns berühren, körperlich. Und die uns verändern können, wie künstlich auch immer sie sein mögen.