Für mich als Schriftsteller sind Flaggen Fahnen. Sie versinnbildlichen die allerletzte Phase, ehe ein Text in Druck geht. Die Veröffentlichung steht unmittelbar bevor. Das Erscheinungsdatum winkt. Die Nerven flattern. Ein Werk, mit dem man – wer kann schon sagen wie lange – gerungen hat, ist in einem Layout, das der Herausgeber für angemessen hält, aus dem Drucker gekommen. Die Sätze erscheinen in einem Spiegel, der sämtliche im Namen des Verlags publizierten Bücher repräsentiert.
Was ich fabriziert habe, liegt, in jenes Kostüm gepfercht, in dem es der Welt gegenübertreten soll, vor mir. Als hätte das Publikum schon mal Platz genommen, als wäre die Generalprobe bereit in die Hose zu gehen. Da ich sparsam mit Worten umgehe, ist jedes Blatt auf beiden Seiten bedruckt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Obwohl es immer ein Zurück gibt. Und doch scheint ausgerechnet dieses immer dazu beizutragen, dass ein jegliches jetzt an Bedeutung verliert.
Eine fremde Hand war an meinem Text. Gemeinsame Arbeitsprozesse wie Lektorat und Korrektur mal außer Acht gelassen – dabei spielen Hände eine untergeordnete Rolle. Da ging es darum meine Gedanken von der einen oder anderen Eskapade abzubringen. Diese Zeilen sehen jedoch nicht mehr aus als wären es nur meine.
Stehe ich beispielsweise in meiner Küche und bereite Artischocken zu, lässt sich noch einigermaßen glaubwürdig vermitteln, dass die Zubereitung dieses distelartigen Gemüses etwas mit einem Abschnitt meiner Familiengeschichte zu tun hat. Liegt eine Artischocke samt Blättern und Boden erst einmal mundgerecht auf einem Teller, stellt sich hingegen vor allem die Frage, ob sie denn auch schmeckt. Um herauszufinden, wieviel Herz in ihre Zubereitung investiert wurde, genügen nunmehr Gabel und Messer. Zu servieren, was ich zubereitet habe, heißt, es einem weiter gefassten Zusammenhang zu überantworten.
Konfrontiert mit den Fahnen wird mir erst so richtig bewusst, dass ein Text von Anfang an nicht nur für mich gedacht war. Zwischendurch vergesse ich das schon mal. Dabei stand vom ersten geschriebenen Wort an fest, dass, wovon es den Anfang bildet keineswegs nur von mir in meinem Arbeitszimmer – angesichts meiner Verwundbarkeit – oder in meinem Wohnzimmer – angesichts meiner Reizbarkeit – gelesen werden würde. Jede Menge Menschen sollen sich in der Abgeschiedenheit ihrer selbst damit auseinandersetzen. Etwas meinem Wesen Ähnliches in sich entdeckend. Erkennend, dass meine Stimme etwas davon ausspricht, was sich auch in ihnen Gehör verschaffen will. Was in Form der Druckfahnen vor mir liegt, macht sie zu meinen Lesern und Leserinnen.
Wenn ich mich in meinen Texten der so genannten Ich-Perspektive bediene, tue ich das nicht um von mir zu erzählen. Was mir vorschwebt, ist so etwas wie eine Kameraeinstellung, bei der das Objektiv das Auge der nicht Anwesenden vertritt. Ich muss allerdings damit rechnen, dass Leserinnen und Leser Charakterzüge einer meiner Figuren (sofern sie mich persönlich kennen), häufiger noch Überzeugungen (sofern sie mir nie begegnet sind) als meine ureigenen wahrnehmen. Und da meine Texte, sind sie erst einmal veröffentlicht, nicht mehr ausschließlich mir gehören, ist meine Meinung dazu nicht viel mehr als eine unter mehreren. Was ich dazu zu sagen habe stimmt zwar, etwas anderes stimmt aber möglicherweise auch.
Um mir selbst gegenüber nicht an Glaubwürdigkeit einzubüßen, habe ich mir im Laufe der Jahre angewöhnt, die Protagonisten meiner Texte mit der einen oder anderen Facette auszustatten, die ich aus meiner Biographie entlehne. Hält mich wieder einmal jemand für eine meiner Figuren, kann ich gelassen antworten, dass das nicht unbedingt verwunderlich sei, dass es sich dabei allerdings zwangsläufig um eine Verwechslung handle.
So oder zumindest so ähnlich habe ich mich auch dem Protagonisten meines Romans „Der Schmetterlingstrieb“ gegenüber verhalten. Ich habe ihn eingeladen, während der Zeit, in der ich seine Geschichte erzähle, bei mir zu wohnen. Meine Wohnung wurde dadurch zum Schauplatz seiner Erlebnisse. Mag die Idee dahinter auch darin gelegen haben, dass ich mich bei mir am besten auskenne – habe ich damit natürlich auch eine Einladung zur Miss-Interpretation ausgesprochen.
Da mein Protagonist mitbringen durfte, was er benötigt, um zu veranschaulichen, was ihm so alles zustößt, geriet ich unter anderem an ein Gemälde von Jasper Johns: Target. Angeblich sein „Lieblingsbild“ –das des Protagonisten meines Textes. Soweit es Jasper Johns betrifft, kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen. Eine Zeitlang hing Target oberhalb der Kommode meiner Romanfigur und also gleichzeitig in meinem Wohnzimmer.
Bei der Entwicklung des Plots meiner Texte bemühe ich mich um größtmögliche Kooperation. Es macht mir nichts aus, wenn sich etwas nicht als genau das herausstellt, wofür ich mich entschieden hätte. Schließlich geht es hier nicht vorrangig um mich. Wären meinem Protagonisten in „Der Schmetterlingstrieb“ keine eigenen Entscheidungen erlaubt gewesen, hätte für die Dauer seines Aufenthalts bei mir wohl Jasper Johns‘ Flag (und zwar die Urfassung aus dem Jahr 1954) an meiner Wohnzimmerwand gehangen – mein „Lieblingsbild“ dieses Künstlers. Ich erwähne das, weil das Sujet dieses Gemäldes besser in diesen Zusammenhang passt. Ich verhalte mich kooperativ.
Den Protagonisten meines Romans fasziniert an Target, dass – ich zitiere – „(E)ine Zielscheibe an sich bereits ein Objekt ist, dessen Funktion durch die Gestaltung seiner Oberfläche gewährleistet ist. Vergleichbar etwa einer Flagge. Eine Zielscheibe kann auch zweidimensional sein wie ein Gemälde. Das wie eine Zielscheibe gemalte Bild unterscheidet sich im Grunde nur dadurch von einer Zielscheibe, dass es eben keine ist. Verwirrend, aber im selben Moment erhellend.“
Diesen Gedanken aufnehmend, fasziniert mich das Thematisieren einer Flagge als Motiv eines Gemäldes wie Johns es einige Jahre davor bei Flag gemacht hat sogar noch mehr.
Eine Flagge – im Fall von Flag, das so genannte Star-Spangled-Banner – ist ein Stück Stoff, das seine Identität (und damit verbunden seine Aussagekraft) der Beschaffenheit seiner Oberfläche verdankt. Was Johns‘ Flag von einer Flagge unterscheidet, ist nicht nur die Tatsache, dass es sich bei Flag um eine Malerei handelt. Würde man das Bild von der Wand nehmen und umdrehen, hätte man die Rückseite einer Holztafel vor Augen, auf der die Jahreszahl 1954 geschrieben steht. Ich habe das in einem Buch gesehen – also unter den Bedingungen der Welt des Protagonisten meines Romans.
Genauso wie von Target, dessen Motiv in verschiedenen farblichen Ausführungen und unterschiedlichen Formaten existiert, gibt es auch mehrere Versionen von Flag. Darunter eine, die ganz ohne Farben auskommt. Dabei sind Farben und ihre Anordnung bei Flaggen, anders als im Fall von Zielscheiben, die dadurch bestenfalls attraktiver werden, von essentieller Bedeutung. Das Sternenbanner richtet sich an eine bestimmte Nation – an alle anderen zwar auch, aber gewissermaßen als die anderen. Indem eine Flagge (flag) eine bestimmte Geschichte erzählt, wird sie zu einer Fahne (flag). Auf diese Weise erhält ein bedrucktes Stück Stoff eine Identität. (Ich frage mich, ob der Umstand, dass im Englischen in beiden Fällen das gleiche Wort verwendet wird, mit ein Grund dafür ist, dass Flaggen, die mit einer Geschichte verknüpft sind, Namen tragen – Star-Spangled-Banner, Union Jack, Jolly Rogers.)
Betrachte ich Johns‘ Flag – ich kenne das Werk nur von Abbildungen –, erklingt bereits nach kurzer Zeit in meinen Ohren Jimmy Hendricks Version der US-amerikanischen Hymne. Sie trägt den gleichen Namen wie die Fahne – Star-Spangled-Banner.
Hendricks ließ seine Interpretation zum Abschluss des legendären Festivals in Woodstock im Jahr 1969 erklingen, und wie er diese, den meisten Anwesenden wohl mehr als nur vertraute (womöglich sogar auf mannigfaltige Art mit ihrer Biographie verwobene) Melodie interpretierte, wurde, vor allem aufgrund des Einsatzes diverser Rückkopplungen sowie eines an Hendricks Gitarre angeschlossenen Verzerr-Geräts (Distorsion), als politisches Statement verstanden. Viele wollen darin einen Kommentar zum damals heiß diskutierten Engagement der US-amerikanischen Streitkräfte in Vietnam erkennen. Wenn ich daran denke, wie Hendricks seine Klänge in die Atmosphäre entlässt, beginnt sich Johns‘ Flag in meiner Vorstellung zu bewegen, was damit zu tun haben mag, dass sie sich ebenfalls als Statement zu erkennen gibt. Das eine weniger aggressiv als gemeinhin angenommen, das andere gar nicht so statisch wie auf den ersten Blick.
Das Festivalgelände in Woodstock wurde von denjenigen bevölkert, die ein Ticket gelöst hatten (zum Zeitpunkt von Hendricks Auftritt angeblich nur noch ein verhältnismäßig überschaubarer Rest). Hendricks musikalisches Denkmal richtet sich allerdings auch an alle anderen, also auch an uns. Es wurde auf einem Tonträger verewigt, und dieser lässt sich in meinem Wohnzimmer abspielen, wo Johns‘ Flag nie hing. Dieses Werk bereicherte noch nicht einmal die Hirngespinstkammer des Protagonisten meines Romans, musste er sich doch unbedingt für Target entscheiden. Aber er hat eben seinen eigenen Willen – und der ist nicht mit meinem zu verwechseln.
Meinem Protagonisten zufolge bin ich es gewesen, der ihn überhaupt erst auf Jasper Johns gebracht hat und zwar deswegen, weil dieser Künstler am gleichen Tag Geburtstag hat wie ich. (Bullshit!)
Sich dann zumindest selbst für ein bestimmtes Werk aus Johns‘ Oeuvre zu entscheiden, sei für ihn so etwas wie der Ausdruck eines Mindestmaßes an Eigenständigkeit gewesen. Wenn es mir gefällt, könne ich die Zielscheibe, die Target nicht nur zeigt, sondern in gewisser Weise sogar darstellt, durchaus als Ausdruck kontrollierter Aggressivität deuten. Meinetwegen. Es ist ohnehin an der Zeit, das Thema zu wechseln.
Flaggen als Bildträger und, wie im Fall von Fahnen, als so etwas wie Körper künstlerischer Arbeiten einzusetzen, reiht sich mühelos in ein Konzept wie jenes von museum in progress, sieht dieses doch vor, Kunstwerken unkonventionelle, dessen ungeachtet jedoch hervorragend geeignete Displays als Austragungsorte zur Verfügung zu stellen. Feuermauern, Seiten einer Tageszeitung, Plakatwände, Theatervorhänge und vieles andere wurde und wird so zum meist temporären Schauplatz von Arbeiten bildender Kunst.
In der Rolle eines Bildträgers verwandelt sich ein Stück Stoff in eine Flagge, die Stange, an der diese Flagge an einer ihrer kürzeren Seiten befestigt ist, in das Fragment eines Rahmens, der Wind, dessen performativer Kraft es obliegt, womit die Flagge bedruckt ist, ideal zu präsentieren, in die geeignete Fassung. Dem Aufstellungsort kommt dabei eine ebenso wichtige Rolle zu wie den Bedingungen, unter denen ein Bild in den Schauräumen eines Museums gezeigt wird.Handelt es sich um eine künstlerische Arbeit, wird aus der Flagge eine Fahne und um diese, die sich mit Worten, Symbolen, Fotografien, Ornamenten äußert, bestmöglich präsentiert zu bekommen, gilt es im richtigen Augenblick vor Ort zu sein. Wer eine Flaute erwischt, sieht zwar die Fahne, aber nicht, was sie zu sagen hat. Glücklicherweise kann er oder sie sich im eigenen Wohnzimmer davon überzeugen, was zu sehen gewesen wäre. Zu jeder Arbeit ist auf der Webseite von museum in progress eine umfassende Dokumentation samt Statements abrufbar. Dieser Pfad führt auch zu digitalen Beiträgen von manchen der Mitwirkenden, die (in den meisten Fällen) darin in erweitertem Kontext darstellen, was auf den von ihnen gestalteten Fahnen erzählt wird.
Sämtlichen Beiträgen zu dem Projekt raising flags ist gemeinsam, dass sie einen Standpunkt repräsentieren. Sie machen das allerdings nicht wie die so genannten Nationalflaggen oder jene Fahnen, die das Firmengelände eines Konzerns abstecken. Als Kunstwerke verhalten sie sich subversiv. Sie sind unberechenbar. Wie sie zu lesen sind, wird von denjenigen mitbestimmt, die sie betrachten.
Mein Bild von Fahnen wurde in meiner Jugend vom Anblick zahlreicher Länderfahnen, deren Zentrum ein leidenschaftliches Loch aufwies, geprägt. Ihre Geschichte, vor allem jedoch die politische Entwicklung hatte ihnen dort Symbole verordnet – ironischerweise solche, die einst angetreten waren, den Nationalstaat zu überwinden. Ehe die Löcher gestopft wurden, um erneut in die Ausweglosigkeit aufzubrechen, labte man sich an der Ausstrahlung herausgerissener Herzen. In den erfundenen Geschichten wiederum hatten es mir die Flaggen der Piratenschiffe angetan, die die Identität der Besatzung als Teil derjenigen offenbart, die nicht gewillt sind, sich an die gängigen Regeln zu halten.
Von der nur schwer nachvollziehbaren Neigung, sich der gleichen Insignien zu bedienen wie diejenigen, die man als Gefangene einer aufoktroyierten Moral begreift, ging für mich schon immer etwas Faszinierendes aus. Klar zum Kentern!
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