Die übliche Reaktion eines Slowenen wäre folgendermaßen: Nein, Slowenien gehört nicht zum Balkan, wir sind Mitteleuropa. Der Balkan ist da unten, er beginnt in Kroatien oder in Bosnien; wir Slowenen sind die letzte Schwelle, das letzte Bollwerk der wahren westeuropäischen Zivilisation gegen den Wahnsinn des Balkans. Diese Distanzierung konfrontiert uns mit der ersten unter den zahlreichen Paradoxien des Balkans: Er war geographisch nie genau umgrenzt, und es scheint so, als ob man niemals eine definitive Antwort auf die Frage Wo fängt der Balkan an? erwarten könnte.
Für Serben beginnt er da unten, im Kosovo oder in Bosnien, und sie verteidigen die christliche Zivilisation gegen diese Anderen Europas; für die Kroaten beginnt er im orthodoxen, despotischen und byzantinischen Serbien, gegen das Kroatien seine Werte der demokratischen westlichen Zivilisation verteidigt; und wir, die Slowenen, sind der letzte Außenposten eines friedlichen Mitteleuropas; für manche Italiener und Österreicher fängt er in Slowenien an, als die Herrschaft der slawischen Horden; für manche Deutsche ist es Österreich auf Grund seiner historischen Verbindung selbst, das schon von der balkanischen Korruption und Unfähigkeit bestimmt wird; für manche Norddeutsche ist auch Bayern, mit seiner katholisch bäuerlichen Dimension, nicht frei von einem gewissen balkanischen Flair; manch arrogante Franzosen assoziieren mit Deutschland eine östliche balkanische Wildheit. Den Extremfall repräsentieren einige konservative, gegen die Europäische Union gewandte Engländer, für die das ganze Kontinentaleuropa, das genaue Gegenteil des Balkans, heute als eine Art balkan-türkisches Großreich funktioniert, mit Brüssel als dem neuen Konstantinopel, einem launenhaften despotischen Zentrum, das die britische Freiheit und Souveränität bedroht.
Der Balkan ist also immer der Andere, er liegt irgendwo anders, immer ein wenig weiter im Südosten, und in diesen Zusammenhang gehört auch das Paradox, dass wir am unteren Ende der Balkanhalbinsel dem Balkan wieder auf wundersame Weise entkommen sind (da Griechenland eigentlich nicht mehr richtig dazugehört, sondern die Wiege unserer westlichen Zivilisation darstellt).
(Slavoj Žižek: Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke!, die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999.)