Es ist eine Binsenweisheit, daß der „Intellektuelle“ heute keine gute Presse hat. Die Wörter, mit denen man diesen Stand bezeichnet, sind derzeit fast überall negativ besetzt. Der anti-intellektuelle Reflex ist, wie schon in früheren Wellen dieser Art und und bei anderen Formen des Rassismus, Ausdruck eines Ressentiments, das sich vom Zerfall imperialer Gebilde wie dem englischen, österreichischen, französischen, spanischen oder portugiesischen Großreich herleitet oder vom Rangverlust bestimmter Gruppen in der gesellschaftlichen Hierarchie. Letzteres war mit dem Geltungsverlust des Kleinbürgertums in den zwanziger und dreißiger Jahren der Fall. Es gilt heute für die traditionelle Vorstellung von Wissenschaft, Literatur und Kunst. Wir übersehen allzu oft, daß sozialer Abstieg gerade im Kulturbereich häufig auftritt, vom Journalismus ganz zu schweigen, in dem es vor enttäuschten Hoffnungen und Illusionen nur so wimmelt.
Die heutige Jagd auf die Intellektuellen, sei sie volkstümlicher Reflex oder „Antiintellektualismus der Intellektuellen“, hat ihre Wurzeln in der Auflösung der bisherigen Formen von Unabhängigkeit und Autonomie in der postmodernen Welt. Das vergleichsweise autonome Feld, das Künstler und Wissenschafter im Verlauf mehrerer Jahrhunderte den „zeitlichen“ Gewalten der Kirchen, Staaten und Märkte abgerungen hatten, wird durch die Weltökonomie zunehmend in Frage gestellt. Man denke nur an das Aufkommen einer „world fiction“ im Bereich der Literatur, die von Anbeginn für den Weltmarkt konzipiert wird, oder an Gestalten der Medienszene, die plötzlich die Rolle des Intellektuellen und des Philosophen nachahmen wie ein Stuntman die Rolle des Hauptdarstellers oder der Stellvertreter in Akiro Kurosawas Film „Kagemusha“.
Der Verfall der Autonomien in der vernetzten Welt hat eine Krise der Kunst und des Intellektuellen ausgelöst, die durch den Geltungsverlust der millenaristischen Utopien und den Bruch mit der traditionellen Beziehung zwischen einem Teil der Intellektuellen und dem Volk noch verschärft wird.
Dennoch scheint mir die allenthalten vertretene These vom „Ende der Intellektuellen“ aus der Luft gegriffen. Die Hartnäckigkeit, mit der Leitartikler diese Behauptung verkünden, beweist wohl eher, daß die Idee des Intellektuellen an sich heute noch Verunsicherung auszulösen vermag. Der Fortschritt der Sozialwissenschaften hat uns ein weit realistischeres Bild vom Intellektuellen gelehrt: So relativiert sich die Verherrlichung der Intellektuellen in Westeuropa seit Zola, aber auch die regelmäßige Verdammung der Intellektuellen, die aus enttäuschter Liebe zu dieser Idee oder aus gescheiterten Ambitionen hervorgeht, zu einem Teilphänomen der modernen Gesellschaft. Gerade das neue, realistische Bild vom Intellektuellen aber kann zur Grundlage für einen rationalen Utopismus werden, der in der Verteidigung der relativen Autonomie von Wissenschaft und Kunst und der kulturellen Fortschritte, die sie ermöglichte, ein kämpferisches „Minimalprogramm“ erkennt.
Dieser neue Intellektuelle ist demgemäß vor allem ein Wärter über ein Regressverbot in der Kultur. Er kann kaum noch mit prophetischen Anklagen auftreten wie Jean-Paul Sartre, der den „umfassenden Intellektuellen“ der Nachkriegszeit verkörperte, kommt aber auch nicht mehr mit den kritischen Analysen des „spezifischen Intellektuellen“ aus, den Michel Foucault in den siebziger Jahren vertrat. Heute steht und fällt die Zukunft der Intellektuellen als moralische Instanz der entwickelten Gesellschaften mit ihrer Organisation im internationalen Rahmen, wobei die neuen Kommunikationstechniken, die normalerweise die Autonomie des kulturellen Feldes auflösen, auch zu Hilfsmitteln umfunktioniert werden können. Dieser neue „kollektive Intellektuelle“, der aus der weltweiten Koordination und disziplinübergreifenden Praktiken hervorgeht, kann allein jene geistig-moralische Gegengewalt zu den neuen nationalen und transnationalen Mächten hervorbringen, der die postmoderne Gesellschaft notwendigerweise bedarf.
Die Funktion des Intellektuellen fällt weiterhin mit der Verteidigung des Ideals und des positiven Mythos der universellen Werte zusammen, der die Geschichte des Okzidents um den Preis unkontrollierbarer Regressionen in die Barbarei begleitet. Der Intellektuelle definiert sich weiterhin durch die Symbolkraft, die er einfachen Wahrheiten im Namen dieses Ideals zu verleihen vermag, und als Mobilisierungsfaktor gegen die verschiedenen restaurativen Tendenzen, die die gegenwärtige Weltkonjunktur auch in der Kultursphäre bestimmen. Nur dadurch wird mit einigen Erfolgsaussichten gegen die geistige und politische Reaktion anzukämpfen sein, die neue imperalistische Neigungen hervorbringt und Konsequenzen nach sich zieht, die nicht abzuschätzen sind.
(Copyright Pierre Bourdieu. Übersetzt und gekürzt von Robert Fleck.)
Pierre Bourdieu, 65, wurde in den sechziger Jahren mit Studien zum sozialen Gebrauch der Fotografie (mit dem Psychoanalytiker Luc Boltanski, dem Bruder des Künstlers Christian Boltanski) und zur Institution „Kunstmuseum“ zu einem führenden Vertreter der nach-marxistischen Soziologie. Die neopolitische Kunst der neunziger Jahre sieht in ihm infolge seiner Bestimmung der Rolle und des „Feldes“ der Kunst eine Vaterfigur neben Michel Foucault. Bourdieu ist seit 1983 Professor am Collége de France und versucht seit einigen Jahren, die Intellektuellen weltweit zu organisieren. Im vergangegenen Dezember stellte sich Bourdieu als einziger führender französischer Intellektueller vorbehaltlos hinter den Generalstreik. Der Beitrag erschien zuerst in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Liber/Actes de la recherche en sciences sociales“, Dezember 1995.
Symposion 14
Die Symbolkraft des Intellektuellen. Zur Krise eines geistigen Ideals
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