Symposion 13

Das Wissen vom Subjekt. Gespräch mit Franz Kaltenbeck

Über Freud und Lacan, Wissenschaft und Psychoanalyse

Robert Fleck: Sie waren in Wien in den späten sechziger Jahren und in der ersten Hälfte der siebziger Jahre als Sprachphilosoph und Logiker bekannt, gingen 1976 nach Paris und sind dort heute ein Hauptvertreter der Lacanschen Psychoanalyse. Ist es nicht ein Paradox, daß sie nicht in Wien Psychoanalytiker wurden, sondern an der Seine?

Franz Kaltenbeck: Nein. In Wien habe ich nicht einmal die Idee dazu gehabt. Die Psychoanalyse war dort nach dem Krieg eine geschlossene Gesellschaft. Wahrscheinlich konnte jemand, der sehr hartnäckig war, irgendwie einen Psychoanalytiker finden. Der 1985 verstorbene Dichter Reinhard Priessnitz war zum Beispiel von einer Psychoanalytikerin, die sich seiner annahm, mitaufgezogen worden. Aber das gehört nicht zu unserer Kultur. Die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft funktioniert abgekapselt. Es stand nicht zur Debatte, sich analysieren zu lassen. Obwohl wir es gebraucht hätten.

RF: In Wien bewegten Sie sich im weiteren Umfeld des „Wiener Aktionismus“?

FK: Ich war nicht wirklich integriert, aber mit etlichen Gruppen bekannt. Seit 1966 war ich vor allem mit Reinhard Priessnitz befreundet, der gerade seine ersten, intensiven Gedichte veröffentlicht hatte. Zuvor hatte ich den Sechsten Sinn von Konrad Bayer gelesen. Das war der erste starke Eindruck, als ich zum Studium nach Wien kam. Über Priessnitz lernte ich anschließend den Dichter und Philosophen Oswald Wiener kennen.

RF: Bayer war 1964 gestorben. Priessnitz und Wiener bildeten in der Folge Zentralgestalten des Wiener Kunstlebens, obgleich ein breiteres Publikum diese Namen bis heute kaum kennt. Wäre Priessnitz nicht in einem Literaturbetrieb wie dem westdeutschen oder in Paris ein Kritikerpapst geworden, während er in Wien durch die andersgeartete Struktur der Öffentlichkeit eine Randfigur blieb?

FK: Ich denke nicht. Priessnitz war zwischen 1966 und dem Lyrikband von 1978 in der Szene sehr en vogue: Jeder wollte ihn an seinem Tisch haben. Doch Priessnitz weigerte sich stets, die Rolle eines Meinungsmachers zu übernehmen.

RF: Sie selbst schrieben damals dichterische und systemtheoretische Texte, zum Teil gemeinsam mit Peter Weibel. 1976 gingen Sie nach Paris zu Jacques Lacan, dem Enfant terrible der Psychoanalyse. War das für Sie eine Fortsetzung der Wiener Erfahrungen?

FK: Eine Flucht aus der Enge. In der Wiener Boheme sind viele verkommen. Ein gemeinsamer Freund mit Priessnitz, Michael Turnheim, hat sich im Rahmen seines Medizinstudiums als erster eingehend mit Lacan beschäftigt. 1974 bildeten wir zusammen mit einem Linguisten einen Lacan-Lesekreis. Ich ging 1976 nach Paris. Turnheim folgte 1977.

RF: Die Wiener intellektuelle Szene der sechziger und frühen siebziger Jahre, vor allem der „Wiener Aktionismus“ wird im Ausland oft als typisches Phänomen der Kinder Freuds bezeichnet.

FK: Konrad Bayer hatte Freud gelesen und führt ihn in seiner Ehrenliste der österreichischen Autoren an. Das Gegenteil wäre auch kaum vorstellbar. Ebenso Oswald Wiener, der Freud aber aus einer gewissen Distanz betrachtete. Ganz allgemein muß man sagen, daß Freud damals in Wien recht naiv gelesen wurde, nämlich ohne daß man die weiteren Entwicklungen der Psychoanalyse auch nur vom Hörensagen kannte. So gesehen ist Freud heute nur noch historisch interessant.

RF: Bayer, Priessnitz und Wiener, wie auch Peter Weibel und Sie selbst in ihrer Wiener Zeit, versuchten die Philosophie wieder auf eine radikale Sprachkritik zu gründen, gewissermaßen als österreichische Tradition nach Wittgenstein und dem Wiener Kreis der Zwischenkriegszeit. Hat das nicht auch Lacan mit der Psychoanalyse getan, gegenüber Freud und den amerikanischen Behavioristen?

FK: Diese Art von Philosophie war damals in Wien viel zu vereinfachend. Oswald Wieners Verbesserung von Mitteleuropa kam 1969 als Buch heraus und war zuvor in den Grazer Manuskripten in Fortsetzungen zu lesen. Es ist das Hauptwerk dieser Wiener Szene. Doch wurde die Sprache darin als wirklichkeitserzeugend erachtet. Die Wirklichkeit ist für Oswald Wiener, soweit ich mich erinnere, ein Produkt der Kommunikation. Es geht darum, hinter der Sprache eine andere Wirklichkeit im kreativen Akt aufzuspüren. Bei Lacan ist das schon sehr viel differenzierter.

RF: Mit seiner Theorie von der Unterdrückung der Wirklichkeit durch die Sprache und ihrem Durchbrechen durch die künstlerische Aktion galt Oswald Wiener dann auch als „Theoretiker“ des Wiener Aktionismus.

FK: Er war aber niemals von den Aktionisten beeinflußt. Wiener sah schon früh, daß die Aktionisten sich rasch in Staatskünstler verwandeln würden. Aber der soziale Druck war damals in Österreich so unangenehm, daß er die Aktionisten als Protestmittel einsetzen wollte. Seine Sprachkritik wurde unabhängig vom Aktionismus formuliert und erst nachträglich auf den Aktionismus angewandt.

RF: Der Schritt in das berühmte „Seminar“ von Jacques Lacan war für Sie dann wie eine Revolution?

FK: Es war der stärkste Eindruck. Für jemanden, der in Paris ankam, war es nicht verständlich. Selbst Leute, die es seit Jahren besuchten, haben damals mit wenigen Ausnahmen nicht wirklich verstanden, was Lacan meinte. Lacan hat sein „Seminar“ von 1953 bis 1980, also noch im Jahr vor seinem Tod abgehalten. Mit zwei wöchentlichen Vorlesungsstunden bildet es ein riesiges Werk, das Lacan zu einem der wichtigsten Denker dieses Jahrhunderts macht. Es beginnt mit der Frage der Rolle der Sprache in der Wahrheitsbeziehung des Subjekts, und es endet bei der Theorie des Genießens und der Anthropologie der Knoten.

RF: Heute sprechen Essayisten und Philosophen vom Aufkommen einer Gesellschaft, die zunehmend über Bilder funktioniert, nicht mehr über die Sprache. Muß sich da nicht auch eine Disziplin wie die Psychoanalyse herausgefordert fühlen, die sich vornehmlich auf die Sprache stützt?

FK: Sie meinen die Theorie des Bilderflusses von Gilles Deleuze. Die psychoanalytische Zeitschrift, die ich mitherausgebe, beschäftigt sich in ihrer letzten Ausgabe mit dem „unauslöschlichen Bild“: Inwiefern verändert die Überschwemmung durch die Bilder das Denken und das Unbewußte? Das Bild ist aber nicht eine monolithische Formation. Wenn man sich mit Kunst beschäftigt, muß man unterscheiden zwischen dem Bild und dem, was ein Maler hervorbringt. In einem Gemälde z. B. gibt es viel mehr Dimensionen als in einem medialen Bild. Das Bild hat zwei Dimensionen: Es dient dazu zu kommunizieren. Wir wissen dadurch, was in der Welt vor sich geht. Dieses Argument wird immer wieder angeführt, um Schreckensbilder aus Sarajewo, Tschetschenien oder Afrika zu rechtfertigen. Gewiß wurden positive politische Akte dadurch gesetzt, daß jemand im Fernsehen sah, was anderswo vor sich ging. Doch macht diese Art von Bildern den Zuseher auch zum Terroristen und Voyeur. Demgegenüber gibt es die Bilder des Unbewußten, von denen die Psychoanalyse und die Kunst sprechen und die an das Begehren appellieren. Das Subjekt wird nicht mit seiner Grausamkeit konfrontiert, sondern mit seinem Begehren. Es wird aufgeweckt, nicht eingeschläfert. Der verstorbene französische Filmkritiker Serge Daney hat diesen Unterschied beschrieben. Gerade deshalb ist die Psychoanalyse als Wissen vom Subjekt so aktuell. Wenn man nicht erkannt hat, wie das menschliche Subjekt aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen ist, versteht man nicht, warum Leute zum Psychoanalytiker gehen.


Franz Kaltenbeck, geboren 1944 in Oberösterreich, war ab 1966 als philosophischer Publizist in Wien tätig und lebt seit 1976 als Psychoanalytiker in Paris. Er ist derzeit Chefredakteur der Zeitschrift Le Champ freudien, der auflagenstärksten psychoanalytischen Publikation in französischer Sprache, und gilt als führendes Mitglied der „Ecole de la cause freudienne“, der offiziellen Vereinigung der Lacan-Schule. Diese dissidente psychoanalytische Bewegung, die sich auf eine Freud-Lektüre im Licht der modernen Sprachphilosophie und auf unorthodoxe Beziehungen zwischen dem Psychoanalytiker und seinen Analysanden stützt, stellt heute, zumeist wieder in verschiedene Gruppen gespalten, in mehreren westeuropäischen Ländern die führende psychoanalytische Schule dar. 1990 fand ein von ihm mitiniziiertes Reinhard-Priessnitz-Symposion in Paris statt (Verlag Droschl/neue texte).

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