Im Frühjahr 1998 begann die FPÖ in den meisten österreichischen Bundesländern eine große Plakataktion mit dem Slogan: „Keine Gnade für Kinderschänder!“ Die Bevölkerung wurde aufgerufen, Unterschriften gegen einen zu milden Umgang mit Kindesmissbrauch zu leisten. Im Zusammenhang mit dieser Kampagne wurde von der FPÖ in Kärnten auch das farbige Großfoto eines etwa elf- oder zwölfjährigen Mädchens plakatiert, das den Betrachter attraktiv hergerichtet, geschminkt, mit langen schwarzen Locken und einer Träne auf der Wange anschaut. Darunter stand ein Aufruf, die Unterschrift gegen Kindesmissbrauch zu leisten. Gleichzeitig lancierte die FPÖ die Forderung nach „absoluter Anzeigepflicht“ bei Kindesmissbrauch für SozialarbeiterInnen und andere Helfer. Eine Gruppe von Kärntner PsychotherapeutInnen und PsychologInnen, die im Krankenhaus, in Beratungsstellen und an der Universität Klagenfurt arbeiteten, sah sich genötigt, Ende September 1998 folgende Erklärung „gegen den Missbrauch des Missbrauchs“ abzugeben:
„Als PsychotherapeutInnen und PsychologInnen, die in ihrer Berufsausübung mit Opfern von sexuellem Missbrauch befasst sind, wenden wir uns gegen die aktuelle Form der Missbrauchsthematisierung durch die FPÖ. Inzest mit Kindern und sexueller Missbrauch sind unter allen Umständen ein schwerwiegender Anschlag auf die elementaren Entwicklungsbedingungen und die Integrität eines Menschen, und es muss alles getan werden, um solche Übergriffe rasch und wirksam zu unterbinden. Die FPÖ verknüpft aus unserer Sicht jedoch die verständliche Empörung über den sexuellen Missbrauch in willkürlicher und unfairer Weise mit der Hetze gegen einen missliebigen Künstler und politische Gegner. Dabei schreckt sie in einem Beiblatt zur Unterschriftensammlung vor den Mitteln der sexuell aufreizenden Collage nicht zurück. Bei einer Plakataktion gegen Missbrauch, die mit einer Unterschriftensammlung verbunden war, wurde das Foto eines Mädchens verwendet, das man zuvor als verführerische Lolita ausstaffiert hatte. So werden männliche Betrachter unterschwellig stimuliert, damit sie sich dann bei der Unterschrift wieder moralisch und sauber fühlen können.
Was wird das abgebildete Mädchen in einigen Jahren zu der Plakataktion sagen? Diese Form der Missbrauchsthematisierung fördert die Heuchelei. Der Stil der Missbrauchskampagne der FPÖ ist für die Praktiker in der Kinderschutzarbeit nicht hilfreich. Die geforderte ‚absolute Anzeigepflicht’ (über die bereits vorhandene Regelung hinaus) beispielsweise ist eine kontraproduktive Leerformel. Sie verbreitet Zusatzstress und Angst dort, wo eine verantwortungsvolle Diagnostik und das Abwägen des geeigneten Zeitpunkts für strafrechtliche, sozialarbeiterische und therapeutische Interventionen angebracht sind. Überstürzte Maßnahmen können Kinder gefährden. Das fachliche Ringen um die richtige Entscheidung wird durch die Herstellung eines politischen Verfolgungsklimas bis in die psychosozialen Einrichtungen des Landes hinein torpediert und behindert. Aus den genannten Gründen fordern wir die FPÖ auf, ihre Missbrauchskampagne in der derzeitigen Form umgehend einzustellen.“
Unterzeichnet war diese Erklärung von über zwanzig erfahrenen PsychotherapeutInnen und PsychologInnen. Über den Aufruf wurde in der Kärntner „Kleinen Zeitung“ berichtet. Natürlich zeigte sich in der FPÖ niemand beeindruckt. Haider und seine Leute waren die neuen Kinderschutzexperten. Einige PsychotherapeutInnen, die die Erklärung zunächst begeistert unterschreiben wollten, machten den Fehler, ihre Dienstgeber, die der FPÖ nahe standen, von ihrer Absicht zu informieren, und wurden so massiv unter Druck gesetzt, dass sie die Unterschrift wieder zurückzogen.
Parallel zu den Anti-Missbrauchs-Aufrufen zeigte sich Haider dem Wahlvolk immer mehr als Kinderfreund. Auf einem großen Plakat hält er zwei glückliche Kinder im Arm, und darunter ist der Ausruf eines dieser Kinder „Mein Bruder, der Jörg und ich!“ zu lesen. Wo es so viele böse Verführer und Verharmloser gibt, muss es doch wenigstens einen guten Onkel geben. Einer der vielen Haider-Beiträge zur Spaltung der Welt in die Nur-Bösen und die Nur-Guten. Andere Plakate zeigten Haider wie einen Ober-Familienvater mit einer Frau und einem Kind verbunden mit dem Slogan: „Einer der unsere Kinder schützt“. Das Mädchen auf dem Arm der Mutter schaut allerdings etwas ängstlich.
Nach den Kärntner Wahlen, bei denen die FPÖ u.a. durch das Kinderscheck-Versprechen punktete, warb die Partei mit der fotografierten Rückseite nackter Babys und dem Spruch: „Danke Jörg!“ Erst zu diesem Zeitpunkt kam es zu einer politischen Diskussion über den Missbrauch von Kindern für die Parteiwerbung. SPÖ-Politikerinnen äußerten sich kritisch. Nach meinem Empfinden hätten wirklich nur einige sehr Perverse im Kärntner Publikum durch die Baby-Popos stimuliert werden können (das Lolita-Plakat vom Sommer 1998 war viel schlimmer gewesen). Aber unter der vorher von der FPÖ selbst verbreiteten Voraussetzung, dass die Kinderschänder und „Babyficker“ überall lauern, hätte man das Plakat durchaus als fahrlässig einschätzen müssen. Es verschwand dann auch über Nacht von den Plakatwänden.
Für die Kärntner Landtagswahlen im Frühjahr 1999 und die Nationalratswahlen Anfang Oktober 1999 wurde Haider erneut als „Einer, der unsere Kinder schützt“ aufgebaut. Für die Gegner stand das Eck der Kinderfeinde und Kinder-Sympathisanten bereit. Noch einmal aus dem Wiener Wahlkampf: „Wir von der FPÖ lassen die Wiener und ihre Kinder auch weiterhin nicht im Stich (.) In Österreich ist es möglich, dass ein einfacher Diebstahl härter bestraft wird, als der sexuelle Missbrauch unserer Kinder. Dafür sind SPÖ und ÖVP verantwortlich. Die FPÖ schützt unsere Kinder. Wer sich an ihnen vergeht, hat mit lebenslanger Haft zu rechnen.
Kindesmissbrauch ist ein schweres Verbrechen. Dafür darf es keine Entschuldigung geben.“ Im „Kinderschutzpaket“ der FPÖ vom Herbst 1999 heißt es: „Fast täglich werden neue erschütternde Fälle und fürchterliche Gewalttaten bekannt und trotzdem verharmlost diese Bundesregierung und setzt keine wirksamen Maßnahmen zum Schutz unserer Kinder.“ Haider hatte gewissermaßen ein großes Tintenfass mit der Aufschrift „Kinderschänder“ oder „Kinderschänder-Dulder“ aufgestellt, in das er missliebige Künstler, Politiker und Kritiker hineinzustecken droht. Die Folgen können ruinös sein. Im Februar 2000 erwischte es die belgische Regierung, die Haiders Rechtsextremismus beim Namen genannt hatte. Bloß hatte die Sache den Schönheitsfehler, dass Haider nicht mitbekommen hatte, dass in Brüssel die Regierung, die möglicherweise in den Kindermord- und Porno-Skandal um das Ehepaar Dutroux verwickelt war, längst abgewählt und durch eine neue ersetzt worden war. Die Verfolgungsimpulse, die man mobilisiert, drohen manchmal auch die eigene Realitätsprüfung außer Kraft zu setzen.
Die Kampagne der FPÖ wäre vielleicht noch zu ertragen, wenn sie nur realitätsfern wäre. Sie bedroht aber einzelne Menschen und schadet darüber hinaus der Praxis eines effektiven Kinderschutzes. Wollte man den Kindern wirklich helfen, so müsste man zuallererst die Arbeitsbedingungen der SozialarbeiterInnen in den Jugendämtern verbessern, die das wichtigste Frühwarnsystem für Missbrauchsfälle verkörpern, die aber viel zu hohe Klientenzahlen haben und für die monatelang keine Schwangerschaftsvertretungen bereitgestellt werden, sodass eine Sozialarbeiterin oft die Arbeit von zweien machen muss. Diese Sozialarbeiterinnen sind zumeist gut ausgebildet und motiviert (sie würden wirklich den Titel „Die unsere Kinder schützen“ verdienen). Oder Haider hätte das einzige Kärntner Kinderschutzzentrum, das personell völlig unterbesetzt ist, sofort nach dem Amtsantritt als Landeshauptmann finanziell absichern können. Stattdessen wurde der Kinderschutz unter dem Vorsitz von Haider und seines Jugendreferenten Reichhold ein zweites Mal erfunden. In öffentlichen Erklärungen wurde behauptet, dass nach den Strafrechtsreform-Plänen der SPÖ/ÖVP-Regierung, beim „aussergerichtlichen Tatausgleich“ sich in Zukunft auch die Missbrauchstäter einfach würden „freikaufen“ können. Und es wurde behauptet, die in Kärnten bereits vorhandenen Kinderschutzeinrichtungen hätten untereinander nicht kommuniziert und würden jetzt die starke Hand des Landeshauptmanns und seinen „Kinderschutzgipfel“ benötigen.
Der Pressesprecher des zuständigen „Vereins für Bewährungshilfe“ stellte dem gegenüber fest: „Bei der Durchführung des außergerichtlichen Tatausgleichs, besonders im sozialen Nahbereich, steht die Wahrung der Interessen des Opfers an erster Stelle (.) Ein aussergerichtlicher Tatausgleich ist in Fällen des Kindesmissbrauchs von unserer Seite, aber auch seitens der Staatsanwaltschaft nicht vorstellbar.“ (Kleine Zeitung, 15. 12. 1999) Und die Kärntner Kinder- und Jugendanwältin antwortete auf den Vorwurf der mangelnden Koordinierung des Kinderschutzes wie folgt: „Es gibt sehr wohl ein gut ausgebautes Netzwerk zum Schutz der Kinder, und es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass diese Institutionen voneinander wissen.“ (Ebenda) Die von Haider in Kärnten als grosse Neuerung eingeführte 24-Stunden-Kinderschutz-Hotline, die laut „FPÖ-Kinderschutzpaket“ endlich eine „psychologische Rund-um-die-Uhr-Betreuung für Opfer und deren Angehörige“ verspricht, bestand im Februar 2000 darin, dass ein offensichtlich gestresster Psychologe die AnruferInnen auf die Adressen der schon länger vorhandenen etwa dreißig in Frage kommenden Einrichtungen verwies. Und wenn man Pech hat, sitzt dieser Psychologe im Auto und hat die wichtigen Telefonnummern gerade nicht zur Hand.
Die „absolute Anzeigepflicht“ wurde im „Kinderschutzpaket“ der FPÖ für Kärnten konkretisiert als „schriftliche Aufforderung an alle Bezirkshauptleute, bei allen unterstellten Dienststellen darauf zu achten, dass Informationen über Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlungen gewissenhaft geprüft und verfolgt werden“. Das ist eine Verdoppelung der schon bestehenden Gesetze, bloß dass diese (gemäß § 84, Absatz 2 der StPO) sinnvollerweise vorsehen, dass die Anzeigepflicht nicht besteht, „wenn die Anzeige eine amtliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf“. Ohne die derzeit noch gesetzlich gesicherte Möglichkeit der Helfer, das Vertrauensverhältnis zu den Opfern zu wahren und in Absprache mit Kollegen und Vorgesetzten selbst über den Zeitpunkt der Anzeige zu entscheiden, wäre eine „absolute Anzeigepflicht“ ungefähr so notwendig und sinnvoll wie eine von oben verkündete „absolute Operationspflicht“ für Chirurgen. In hektischer Stimmung und mit Strafangst im Genick wird der Eingriff nicht sicherer.
Die vorliegende Schrift kann nicht auf Spezialprobleme der Versorgung von Gewaltopfern eingehen. Es bleibt aber die politisch-psychologische Frage, warum die fahrlässige Behandlung des Themas Kindesmissbrauch oder „Kinderschänder“ für die Haider FPÖ so interessant ist.Ich denke, dass dies auf einer allgemeinen Ebene auch damit zu tun hat, dass sich in unserer Gesellschaft sehr viele Menschen, auch Erwachsene, in ihren Liebeswünschen und ihrer Gutgläubigkeit durch Autoritäten missbraucht und ausgebeutet fühlen. Das gilt für viele Arbeitsbeziehungen, in denen die Chefs zu allem anderen auch noch über die „Erotik der Macht“ verfügen. Und das gilt noch mehr für die permanenten sexuellen Verführungen und Versprechungen, die von der Kulturindustrie, den TV-Satelliten-Programmen, mehr oder weniger pornografischen Werbebotschaften usw. ausgehen. Letzten Endes gehen wir dabei leer aus und zahlen noch drauf. Viele Menschen fühlen sich wie dumme und verführte Kinder, welche die Autorität nicht stürzen können. Beim Kindesmissbrauch ist der böse und verführerische Anteil der Autorität ganz offensichtlich, und wenigstens in der Aufregung darüber können wir an der ersehnten Bestrafung der „geheimen Verführer“ (Vance Packard) und der Repräsentanten von veruntreuter Autorität teilnehmen. Leider kommt hinzu, dass in der detailgenauen Berichterstattung über Missbrauch – kaum verhüllt von den Bestrafungsfantasien – auch der Voyeurismus des Publikums befriedigt wird. Das Inzesttabu wird gleichzeitig zu Recht als eine letzte Bastion der Moral in einer kommerzialisierten und sexualisierten Kultur verteidigt, in der alle Schamgrenzen eingerissen werden.
Im speziellen Fall der FPÖ-Anhänger gesellt sich zu dem allgemeinen Verführungsgefühl der ausgebeuteten Konsumenten wahrscheinlich noch ein weiteres Gefühl hinzu: Ihr Führer hat bei den Fans eine Mischung von erotischem Interesse und kindlichen Abhängigkeitswünschen hervorgerufen und benutzt. Es handelt sich nicht um einen sexuellen, wohl aber um einen emotionalen Missbrauch von Bindungsbereitschaft und Liebeswünschen. Die missbrauchten Kinder sind die ins Extrem gesteigerten Schattenfiguren der politisch Verführten, welche ihre manchmal aufsteigende Empörung über die eigene Verführtheit in der Daueraufregung über die Kinderschänder loswerden sollen. Die Fans sind wie die Kinder im Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“, wo der Rattenfänger bekanntlich die korrupten Stadtväter von Hameln dadurch bestraft, dass er die Kinder der Stadt mit der Zaubermelodie seiner Flöte an sich bindet und in eine ungewisse Zukunft führt. Für einen kritisierten Rattenfänger ist es sehr praktisch, auf überall lauernde „Kinderschänder“ zeigen zu können. Die von ihm praktizierte Verführung erscheint im Vergleich zu den Kinderschändern harmlos oder tritt gar nicht erst ins Bewusstsein.
Klaus Ottomeyer
„Die Haider-Show. Zur Psychopolitik der FPÖ“, Klagenfurt 2000 Drava-Verlag, Auszug aus Kapitel 7, Seite 100–108: „Kolig-Affaire und Kinderschänder-Kampagne – Der Missbrauch des Missbrauchs“.
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