Kunst, Kapital, Konfrontationen in progress

„Es liegt eben so, daß die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simultanen Kollektivrezeption darzubieten. In den Kirchen und Klöstern des Mittelalters und an den Fürstenhöfen bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts fand die Kollektivrezeption von Gemälden nicht simultan, sondern vielfach gestuft und hieratisch vermittelt statt. Wenn das anders geworden ist, so kommt darin der besondere Konflikt zum Ausdruck, in welchen die Malerei durch die technische Reproduzierbarkeit des Bildes verstrickt worden ist. Aber ob man auch unternahm, sie in Galerien und in Salons vor die Massen zu führen, so gab es doch keinen Weg, auf welchem die Massen in solche Rezeption sich selbst hätten organisieren und kontrollieren können.“ (Walter Benjamin)

Mit dem Aufkommen des Museumstourismus verlosch die Vision einer „selbstorganisierten Masse“ vor der Kunst – mit seinem weltweiten Erfolg zeigt sich noch deutlicher, wie wenig die kollektive Rezeption jenen ästhetischen Ansprüchen gerecht wird, die die Kunst durch ihre Präsentation im Museum stellt. Der von Benjamin diagnostizierte Konflikt zwischen traditionellen Medien und Wahrnehmungsweisen eines Massenpublikums verschärft sich noch dadurch – und springt auf die modernen, aber bereits museumswürdigen Medien über, daß auch ihre Präsentationsweise kontemplative Beschauer voraussetzt und nicht rasch vorbeieilende Reisegruppen. André Malrauxs musée imaginaire stellte unter anderem den Versuch dar, durch die technische Reproduzierbarkeit einen genuin modernen, der Massen- und Mediengesellschaft eigentümlichen Anblick der „Weltkunst“ zu gewinnen, in dem das Fiktionale von Reproduktionen nicht als Verfälschung erscheint, sondern als Enthüllung des künstlerischen Gehalts. Fotobände und Diasammlungen sollen den Gegensatz überbrücken, der das individuelle, existentiell bedeutsame Kunstereignis von der breiten Nachfrage danach trennt.

Einige Jahre zuvor fabrizierte Marcel Duchamp mit „La Boite-en-Valise“ eine ironische Vorwegnahme von Malrauxs pathetischem Entwurf. Duchamps „sozusagen tragbares Museum“ leistete eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Institution Museum ein, die durch ihre gewitzte Radikalität den Museumsturm der klassischen Moderne (Pissarro, Marinetti, etc.) überwand und über Marcel Broodthaers, Daniel Buren oder General Idea in die Gegenwart reicht. Der Museumsboom der Achtziger jedoch blieb von der Kritik, die die „Künstlermuseen“ an den Kriterien und Zwecken des Sammelns und Bewahrens üben, ebenso unbeeinflußt wie von Bazon Brocks weiterhin aktuellem Vorschlag, nicht in Museumsarchitektur zu investieren, sondern in einen billigen Schuppen und – vor allem – in dessen Funktionieren.

Das museum in progress ist kein Künstlermuseum, hat aber von ihnen gelernt: zum einen, daß der Museumsbegriff in dieser Gesellschaft von strategischem Nutzen ist, selbst wenn im Überschreiten seiner Grenzen das deklarierte Ziel liegt, zum anderen, daß sich neue Konzepte von Kunstvermittlung aus einer Auseinandersetzung mit traditionellen Museumskonzepten und ihrer aktuellen Fragwürdigkeit entwickeln lassen, nicht aber aus ihrer pauschalen Verwerfung.

Die kulturellen Widersprüche, die von der in den Achtzigern grassierenden Musealisierung gefestigt bzw. konstituiert wurden, sind der Hintergrund, wogegen sich das museum in progress als Versuchsmodell neuer Formen der Finanzierung, Organisation, Veröffentlichung und Vermittlung von Kunst absetzt. „museum in progress“, das heißt in Alexander Dorners Worte übersetzt: „nur als Pionier hat das Museum Sinn“. Im Gegensatz zum musée imaginaire, das die überlieferte Kunst technologisch transformiert, dadurch vergegenwärtigt und in den Alltag integriert, kuratiert das museum in progress hauptsächlich zeitgenössische Kunst, die es an den vorherrschenden Vermittlungskanälen vorbei direkt in den medialen Alltag schleust, indem es Zwischenräume in künstlerische Freiräume verwandelt (siehe die Projekte „Lückenfüller“, „Breaks“ oder „Medienfenster“).

Sowohl die Produktion als auch die Präsentation läuft über moderne Informationsmedien wie Zeitung, Plakat oder Fernsehen, womöglich mit dem Anspruch, nicht mit neuen Vehikeln alte Inhalte zu befördern, sondern künstlerische Inhalte in der Auseinandersetzung mit dem Medium zu gewinnen. Durch sein Logo macht das museum in progress aus Zeitungsseiten oder Plakaten einen Museumsraum, der einem gewöhnlichen Museumsraum darin gleicht, daß er Kunst sowohl an die Öffentlichkeit bringt als auch vor dieser schützt; anstelle des Versprechens feiertäglichen Genusses jedoch, worin das Museum seine quasi religiöse Transzendierung des Alltags formuliert, tritt eine Pluralität möglicher Relationen zur Alltagskultur, die vom Künstler als Abgrenzung, Annäherung, Angleichung oder Verschwinden definiert werden können.

Es steht außer Zweifel, daß viele Zeitungsleser und TV-Seher das Angebot ignorieren, Kunst über Zeitung oder Fernsehschirm direkt nach Hause zu bekommen. Das Ziel des museum in progress liegt denn auch nicht in der Popularisierung zeitgenössischer Kunst – und keinesfalls in einer oktroyierten „Verkunstung“ des Alltags; vielmehr geht es um das Aufeinanderprallen der ökonomisch determinierten Interessen, die den medialen Raum formen und seinen sozialen Einfluß bedingen, mit den undeterminierten Interessen ästhetischer Produktion. Am besten gelang dies jenen Arbeiten, die sich ihr Medium soweit aneigneten, daß sie als künstlerischer Eingriff unsichtbar wurden und im Medium verschwanden; gerade der Verzicht auf Ästhetisierung erzeugte Irritationen bei Auftraggeber, Finanzier, Medienträger und Publikum.

Im museum in progress darf man eine zeitgemäße Umdeutung des von Alexander Dorner propagierten Museumstyps sehen, wenngleich ohne dessen utopischen und universalen Anspruch: „Dieser neue Typ des Kunstinstituts würde aber nicht nur kein ‚Kunst’-Museum im bisherigen statischen Sinne sein, sondern auch kein ‚Museum’. Ein Museum ist ein Erhalter angeblich ewiger Werte und Wahrheiten. Der neue Typ würde eher einem Kraftwerk gleichen, einem Erzeuger von neuen Kräften. Es ist lebendiger und anregender und zugleich viel leichter überall zu errichten, da es viel weniger von quantitativen Ankäufen, d.h. von Reichtum, abhängt, als der jetzige Typ. Es bedürfte keines prachtvollen Palastes absolutistisch ‚idealer’ Provenienz, sondern vielmehr einer funktionellen, elastischen Konstruktion aus leichten, modernen Materialien.“ (Beyond Art, 1947)

Die Architektur des museum in progress ist noch billiger als Bazon Brocks Schuppen, sie ist Metapher: Vom Wiener Büro aus werden Projekte geplant, organisiert und verwaltet, die zusammen die Bausteine des museum in progress ergeben und deren Anordnung zu einem Gebäude ohne Wände, dessen Form sich fortlaufend ändert, von den Entscheidungen der Kuratoren und Künstler abhängt – sowie von den Verträgen, die die Beziehungen des museum in progress zu Geldgebern aus der Wirtschaft und zu Medienunternehmern regeln. Sie setzen einen Kapitalfluß in Gang, den das museum in progress auf die Mühlen der Kunst lenkt, der aber durch die Integration des Firmenlogos in die künstlerische Arbeit – und folglich in Medien mit teueren Werbeflächen an den Geldgeber zurückfließt. Diese Beteiligung an künstlerischen Projekten geht über die Finanzierung und den Werbeeffekt hinaus, insofern sie auch im Risiko besteht, daß künstlerische Arbeiten, deren Eigenart und Wirkung das Unternehmen nicht kennt, an seiner Imagebildung mitwirken.

Sicher, das museum in progress nützt den Trend der Achtziger aus, daß Unternehmen Kunst sponsern und daß Museen eine Professionalisierung nach ökonomischen Kriterien betreiben hin zum „industrialized museum“ (Rosalind Krauss); durch seine flexible Struktur aber, die es den traditionellen Institutionen der Förderung und Vermittlung von Kunst voraus hat, unterstützt es eine künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung, woraus sich zwangsläufig Konfrontation von künstlerischem und ökonomischem Denken bzw. von progressiver Kunstpraxis und sogenanntem Durchschnittsgeschmack ergeben. An ihrer Intensität, Transparenz und ästhetischer Katalysationswirkung muß man den Erfolg des museum in progress messen. 

(1992)

TOP