museum in progress

Eine Tageszeitung wie „Der Standard“ ist ein durchkomponiertes Gebilde. Jedes Ressort und jede Kolumne hat ihren fixen Platz und ein übliches Layout. Und dann gibt es Tage, da erscheint inmitten der routinierten Abfolge plötzlich eine seitenfüllende Zeichnung, oder ein Foto ohne Bildunterschrift, ein Text in einer anderen Sprache, oder eine propagandistische Parole. Ohne Erklärung drängen sich diese Einschiebungen in das gewohnte Bild. Manchmal tauchen sie in einer Spalte am Rande auf, manchmal beanspruchen sie allerdings auch eine ganze Doppelseite, sogar in Farbe. Den einzigen Verweis, was es mit diesen Interventionen auf sich hat, liefert ein kleiner Schriftzug: museum in progress.

Ein Museum in der Zeitung also. Wenn das nicht widersinnig ist: Der Inbegriff der Vergänglichkeit behauptet sich als ein Behälter für Kunst. Was ist mit den musealen Idealen „Sammeln, Forschen und Bewahren“? Ist ein Museum nicht eine Weihestätte mit dicken Mauern, ein Bollwerk gegen die Rasanz unserer Zeit? Das Ideal von museum in progress ist das offensichtlich nicht. Dieses Museum spekuliert nicht auf die Huldigungen einer staubigen Nachwelt. Links vorbei am Defilee der Geschichte geht es ihm um das aktuelle Wirken.

Der Journalismus ist da durchaus beispielhaft: Mit immensem Aufwand und unter ungeheurem Termindruck produzieren Redakteure und Fotografen mit dem Bewußtsein, daß alles, worum es ihnen eben noch ausschließlich ging, morgen schon niemanden mehr interessiert. Wir Leser und Betrachter wiederum werden mit den ungelesenen, nicht-gesehenen Zeitungen und Magazinen nur dadurch fertig, indem wir die Zeitung von heute gegen die von morgen austauschen. Das ist der Stand unserer derzeitigen Kultur, und es scheint, als ob wir uns in dieser Bewußtseinsmaschine einzurichten hätten. Auch die Kunst. Ihre diesbezügliche Geschichte reicht zurück bis zur Jahrhundertwende. Bereits damals begannen die Kubisten ihr Rohmaterial aus den Zeitungen zu ziehen, als Bildvorlage oder als Ausschnitt zum Collagieren. Der nächste Schritt war der Auftritt in den Medien selbst: Der italienische Dichter Marinetti verkündete 1909 mit einem Manifest im Pariser Figaro den Futurismus. Um die entsprechenden Bilder zu sehen, mußte man dann allerdings wieder in die Galerien. 

Der naheliegende Gedanke, daß man nicht nur Manifeste und Interpretationen, sondern die Werke selbst in die Medien bringen müßte, entwickelte sich schließlich ab den 60er Jahren. Zahlreiche Vertreter der Konzeptkunst versuchten damals ihre Ideen als gleichberechtigte Beiträge und Reportagen in Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen zu lancieren. Als sich die etablierten Medien mit diesem Ansinnen schwer taten, wurden kurzerhand eigene Postillen gegründet – heute sehr gesuchte Künstlerzeitschriften wie „Interfunktionen“, „Art-Language“ oder „Der Salon“.

Als Kathrin Messner und Josef Ortner 1990 den Kunstverein „museum in progress“ gründeten, um mit ihm das Verlassen der traditionellen Hängeflächen der Kunst und das Besiedeln von medialen Räumen voranzubringen, mußten sie also nicht die Kunst neu erfinden. Neu war nur die Organisationsstruktur. Mit „museum in progress“ hatte Kunst, die in verschiedenen Medien intervenieren wollte, einen Impressario gewonnen, der vor allem ein neues Kräfteverhältnis schuf. Medialer Platz muß nun nicht mehr einzeln vom Künstler oder der Künstlerin erobert werden, sondern wird Medienpartnern wie Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehstationen und Plakatwandbetreibern im voraus und mit verläßlichen Regeln vom museum in progress als Kunstort abgehandelt. Während die inhaltlichen Konzepte meist von international agierenden KünstlerInnen und Kuratoren (Hans-Ulrich Obrist, Stella Rollig, Robert Fleck u.a.) entworfen werden, kümmert sich das museum in progress als organisatorische Plattform um die Betreuung und Finanzierung. Anfangs wurden die verschiedenen Projekte vor allem mit Geldern der Bundeskuratoren für Kunst unterstützt, mittlerweile hat sich durch privatwirtschaftliche Kooperationen, wie „artpool“ eine neue Finanzierungsstruktur entwickelt.

Vieles ist bereits realisiert worden: Stark beachtet wurde z.B. 1991 die von Helmut Draxler betreute Insertserie „The Message as Medium“ in der Tageszeitung „Der Standard“ und der Wirtschaftszeitschrift „Cash Flow“ mit Beiträgen von Fareed Armaly, Werner Büttner, Andrea Fraser, Michael Krebber, Thomas Locher, Christian Ph. Müller, Heimo Zobernig u.a. Unter dem Titel „Do It“ (Kurator Hans-Ulrich Obrist) wurden aber auch Filmspots, in denen Künstler und Künstlerinnen den Zuschauern Handlungsanweisungen geben, in das Programm von ORF 1 geschleust. 1993 erschienen riesige Diaprojektionen als „Wandzeitung“ auf der Feuerwand der Hochschule für Angewandte Kunst. Seit Winter 1991/92 stehen der Kunst ein- bis zweimal pro Jahr über 3000 in ganz Wien verteilte Plakatwände zur Verfügung. Gerwald Rockenschaub, Bernard Bazile, Felix Gonzalez-Torres, Hans-Peter Feldmann, Rosemarie Trockel, Beat Streuli, Rudi Molacek, Navin Rawanchaikul / Rirkrit Tiravanija, Jeremy Deller und Martine Aballéa konnten diese Möglichkeit bisher nutzen. Durch Kooperationen wurden diese Plakataktionen mittlerweile auch auf ca. 20 europäische Städte ausgedehnt. Von 1993 bis 1996 etablierten sich vier verschiedene Großbilder (von Ed Ruscha, Walter Obholzer, Gerhard Richter und Douglas Gordon) auf der Fassadenfront der Wiener Kunsthalle: Nichts hätte deutlicher machen können, wie weit der Anspruch der Kunst heute zielt, als die 540 Quadratmeter großen Weltrekord-Tableaus, die damals den Karlsplatz neu definierten. 

Tatsache ist, daß heute das Auftauchen von Kunst in der medialen Öffentlichkeit bereits eine gewisse Selbstverständlichkeit bekommen hat. Und das ist nicht nur schön so, sondern absolut notwendig. Es gibt nicht nur zahlreiche Kunstwerke, die erst in diesem Raum ihre eigentliche Kraft entfalten; der Journalismus ist auch ein ausgezeichneter Ort, die Kunst vor sich selbst zu schützen. Zum Beispiel vor ihrem Hang zur Ästhetisierung von allem und jedem; vor dem Veredelungskitsch und der Sakralisierungsfalle, die auch nicht das banalste und radikalste verschonen; vor dem Museum als Aussegnungshalle. Nicht zuletzt der Siegeszug der globalen Medien sollte bewußt gemacht haben, daß ästhetische Macht heute in steigendem Maße Aktivität und Direktheit erfordert. Kunst, die an den Parametern unserer Wahrnehmung mitwirken will, muß daher manchmal auch wie erstklassiger Journalismus agieren können. Das Ziel ist dabei natürlich nicht das Feuilleton, sondern die Sportkolumne und der Leitartikel auf Seite eins.

(Wien 1998)

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