Hans-Ulrich Obrist: Das Thema dieses Gesprächs ist die Idee einer Ausstellung im Sinne von regelmäßigen Ereignissen im Print-Medium, wie wir das in der Tageszeitung „Der Standard“ zusammen mit dem museum in progress seit mehreren Jahren realisieren und nun auch im Wochenmedium veranstalten, mit der Ausstellung „Travelling Eye“ im profil. Wir haben erfahren, daß dieses freie Terrain der Künstler-Seiten sehr schnell Teil der Choreographie einer Zeitschrift, bzw. einer Zeitung geworden ist. Und daß ohne diese Einschaltungen etwas fehlen würde, eben ein Bestandteil der Zeitung oder Zeitschrift.
Stella Rollig: Mir liegt daran, eine Art Neugierde zu erzeugen, die ähnlich wie die Neugierde auf News im Sinn politischer und wirtschaftlicher, also ereignisgebundener Nachrichten funktioniert, daß man so eine Art Neugierde auch auf künstlerische Aussagen erzeugen könnte. Das heißt, daß man nicht nur schaut, was passiert in der Welt, was hat dieser oder jener Politiker gesagt, sondern daß man genauso neugierig darauf ist, wie eine künstlerische Arbeit aussieht.
HUO: Das geschieht ja schon. Viele Leute erzählen, daß sie immer am Montagmorgen als erstes nachschauen, was auf der neuen Doppelseite im profil ist. Ein weiterer Punkt, um den es bei diesen Ausstellungen im Print-Medium geht, ist, die Indifferenz des Betrachterstroms immer wieder aufs neue zu durchbrechen. Seit den ersten Ansätzen dieser Printmedien-Ausstellungen der 60er Jahre, bei Joseph Kosuth, bei Dan Graham ging es eigentlich immer wieder darum, diese Indifferenz zu durchbrechen. Ich denke da auch an Dieter Roths wunderbare Arbeit im Luzerner Generalanzeiger, in dem er während einiger Jahre Kleinanzeigen aufgegeben hat. Oder Arbeiten, die nicht realisiert wurden, aus den 60er und 70er Jahren, etwa Hans-Peter Feldmanns Arbeiten für Printmedien, wo er vorgeschlagen hat, Bilder ohne Legenden abzudrucken, worauf sich nie ein Printmedium eingelassen hat. Ich denke, daß das ein ganz wichtiger Punkt ist, daß diese Modelle jetzt eine tägliche Praxis entwickeln können.
SR: Ich glaube auch, daß unsere verschiedenen Projekte demonstrieren, daß es ein breites Spektrum an künstlerischen Methoden gibt, die Indifferenz des Betrachterstroms, wie du es genannt hast, zu durchbrechen. Bei den Standard-Interventionen ist die Überraschung ein wichtiges Element. Man weiß nicht genau, wann die auftauchen und an welcher Stelle, in welcher Größe und wie deutlich sie sich als Kunst deklarieren. Im profil arbeiten wir ganz anders. Da hat das seinen gleichbleibenden Platz, kann gleich direkt angesteuert werden. Mit beiden Plazierungweisen kann man Möglichkeiten entwickeln, gleichgültigen Konsum zu stören. Manchmal wird kritisch gesagt, es sei langweilig, wenn etwas an einer bestimmten Stelle auftaucht. Wenn ich um halb acht die Nachrichten aufdrehe, dann weiß ich auch, daß jetzt die Nachrichten kommen und bin trotzdem neugierig.
HUO: Man spricht immer von den neuen Medien – Video usw. Es gibt Videokunst seit über 30 Jahren. Genauso ist es mit der Kunst in der Zeitung. Kunst in der Zeitung ist nicht etwas, was wir erfinden, das gibt es seit den 60er Jahren. Der Unterschied liegt wirklich darin, daß es, wie vorhin erwähnt, eine tägliche Praxis wird, daß dadurch auch ein immer differenzierterer Umgang mit dem Medium möglich wird. Da ist auch diese Idee des coup: Provokation ist zwar weiterhin eine Möglichkeit und kann die richtige sein, es gibt aber auch die umgekehrte Variante. Ich denke da an die wunderbare Arbeit von Felix Gonzales-Torres mit den Schwarz/Weiß-Fotos von Geiern in Miami. Felix Gonzales-Torres hat mir gesagt, daß er in massenmedialen Räumen, wo neben dem redaktionellen Programm vor allem die Werbung dominiert, immer mehr Schwarz/Weiß einsetzt, also mit einem ganz bewußten Defizit arbeitet. Da steht sicher auch die Frage nach dem Leerraum oder der leeren Seite. Heimo Zobernig hat einmal im Standard eine ganz leere Seite gemacht. Bei Felix Gonzales-Torres sind es diese Geier am Himmel von Miami, die immer mehr verschwinden, die in einer grauen Seite verschwimmen.
SR: Oder bei John Baldessari seine überschnittenen Bilder, wo auch bewußt Teile der Seite freigelassen werden und sich die Frage stellt, wo hört das Bild auf. Wo bewußt nur Ausschnitte gewählt werden und große Teile der Seite rundherum leer bleiben.
HUO: Fragmente werden als solche gezeigt. Es geht nicht darum, noch eins auf die Werbesprache draufzuhauen, wie es manche Künstler bereits erfolgreich tun. Ich denke, daß das Weglassen genauso effizient sein kann und daß es darüber hinaus natürlich unzählige weitere Strategien gibt. Zum Beispiel diese unspektakulären Fotos von Bernhard Fuchs, abgestellte Autos in österreichischen Wäldern, wo auf einmal das Nichtspektakel im Kontext des Spektakels erscheint. Was die verschiedenen Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler in Standard und profil verbindet ist, daß sie sich inmitten der Spielregeln des jeweiligen Mediums ereignen und diese im Idealfall verschieben.
SR: Das ist allerdings eine sehr optimistische Erwartung. Überschätzt du da nicht die Möglichkeiten des Kunstwerks, bzw. würde eine Arbeit nicht von seiten der Herausgeber, Chefredakteure etc. verhindert, sollte sie sich wirklich an den Grundfunktionsregeln des jeweiligen Mediums zu schaffen machen?
HUO: Ein eingespieltes Verhältnis zwischen verschiedenen Ressorts, zwischen Texten und zwischen Bildern verschiebt sich sehr langsam. Vielleicht auch nochmal die Frage nach dem coup. Eine alternative Strategie zum medialen coup ist eben, durch tägliche Praxis die gegebenen Regeln ganz langsam zu verschieben. Im Standard ändert sich die Erscheinungsform immer wieder. Einmal ist es eine Spalte, ein anderes Mal ist es eine ganze Seite, ein drittes Mal sind es Kleininserate an der Grenze zum Verschwinden, an der Grenze zur Unsichtbarkeit. Im Gegensatz dazu ist es im profil immer eine Doppelseite an der gleichen Stelle. Die Ausstellung findet immer in dem selben vorgegebenen Rahmen statt.
SR: Für mich ist eine der erfolgreichsten Strategie guter Kunst heute: die Verschiebung, die beinahe unmerkliche Inkongruenz, Veränderung und Neudefinierung. Wir hatten ja oft untereinander die Diskussion, ob man diesen Raum in der Zeitung irgendwie kennzeichnen soll oder nicht. Ich war immer für eine Benennung als Museumsraum, weil ich glaube, daß gerade in der Flüchtigkeit der Wahrnehmung, mit der die Massenmedien zu kämpfen haben, solche kleinen Anhaltspunkte wie Türschilder zum museum in progress wichtig sind, um dem Publikum zu sagen, so kann es in einem Museumsraum heute auch aussehen, und da ist vielleicht etwas ganz anderes drin, als ihr erwartet. Da haben sich zwar der Ort und der Inhalt verschoben, aber man weiß zumindest noch, wo man ist. Ich glaube, die Gefahr wäre andernfalls, daß die Betrachter zu schnell aufgeben und sagen, hier weiß ich nicht, wo ich bin, da bin ich gleich mal wieder bei der Tür draußen.
HUO: Es muß auch einen Ansprechpartner geben. Es muß Transparenz geben. Es soll nicht um eine Täuschung gehen, sondern darum, auf solche Dinge zu reagieren. Musil sagte, wenn es Kunst gibt, taucht sie oftmals dort auf, wo wir sie am wenigsten erwarten. Der traditionelle Museumsbegriff, ich meine damit nicht den „traditionellen“ traditionellen Museumsbegriff, wie er in früheren Jahrhunderten bestanden hat, wo das Museum eine heteroklite Realität war, wo im Museum verschiedene kulturelle Aktivitäten gleichzeitig stattgefunden haben, sondern den traditionellen Museumsbegriff im Sinne des 19. Jahrhunderts, wie er immer mehr eine hochspezialisierte Domäne für Kunst und Kunstgeschichte wurde: Durch diesen wurde das ganze Potential der Menschen verschenkt, die sich eigentlich dafür interessieren, diese Schwelle des Museums aber nicht zu übertreten wagen. Das ganze Potential, das Musil in seinem Satz der unerwarteten Begegnungen meint, des Differenzenschocks im Sinne von Victor Segalen. Der andere Aspekt ist, daß man das Ganze nicht zu didaktisch aufarbeiten kann. Es ist wichtig, daß im Endeffekt auch der/die Betrachter/in einen Teil der Arbeit macht.
SR: Gerade im Fall der fotografischen Arbeiten, wie wir sie für das profil ausgewählt haben, wäre ein beigefügter Erklärungstext um so unsinniger, als die fotografische Praxis eine vollkommen geläufige ist. Das ist auch ein wichtiger Aspekt des Andockens für den Besucher in unserem Museum, daß die Frage: Was wird abgebildet? damit auch thematisiert wird. Welche Bilder sind rundherum im Medium? Und andererseits: Welche Bilder stelle ich selbst her? Denn es ist ja in unserer Gesellschaft so gut wie jeder ein Fotografierender oder eine Fotografierende.
HUO: Bilderproduzent/innen.
SR: Richtig. Das ist ja gerade bei Fotografie interessant. David Wojnarowicz hat einmal gesagt: „The creative act is alienated in our society“. Daß eigentlich die Idee von Kreativität ausgelöscht oder zumindest stark verfremdet und zweckorientiert wird und man aber mittels der Fotografie das Schöpferische, Gestalterische als beinahe alltägliche Praxis wieder hereinbringen kann. Insofern sind auch Aussagen, wenn z.B. jemand zu mir sagt: Das sind ja unscharfe Fotos, oder als Scherz sagt: Unscharfe Fotos habe ich auch schon weggeworfen, interessant und treffen einen Kommunikationspunkt, weil man dort genau an die eigene Praxis des Betrachters anschließen kann. Das ist für mich auch eine große Chance.
HUO: Das führt uns zum Thema unserer Ausstellung „Travelling Eye“. Es werden im Lauf eines Jahres 12 internationale Künstler/innen Doppelseiten gestalten, eine pro Woche, viermal hintereinander, ein Künstler pro Monat. Der Hintergrund dieser „Travelling Eye“-Ausstellung ist dieser schöne Satz .
SR: Fotografie nicht als ein Mittel, um sich von der Welt zu distanzieren, sondern – und ich finde, daß sich das im Englischen besonders gut sagen läßt: To get connected.
HUO: Mir fällt dazu die Idee der Sequenz ein. Die Bilderfolge hängt wesentlich mit dieser Praxis des „getting connected“ zusammen. Es ist eben nicht die Idee des Bildes allein, sondern es ist immer auch das Bild davor und das Bild danach. Serge Danex beschreibt es ja sehr schön. Bei Fellini gibt es immer das schäbige Bild davor und das schäbige Bild danach. Es gibt nicht mehr dieses alleinstehende Bild der Bravour. Wir wollten ja beide unabhängig voneinander seit längerem eine Ausstellung zu diesem Phänomen des „getting connected“ organisieren. Ich habe das nie gemacht, weil ich mir immer dachte, ein paar Fotos an die Wand zu hängen, zu isolieren, ist der falsche Kontext. Die Zeitschrift aber hat eine Dramaturgie, wie eingangs gesagt, eine Dramaturgie, wie ein Bild einem nächsten Bild folgt, ein Bild einem anderen zugeordnet ist, Bilder Texten zugeordnet sind und Texten anderen Texten. Insofern ist es ein ganz wichtiger Punkt, daß diese Themenausstellung zur Frage der Sequenz, der Abfolge von Bildern in einem Printmedium stattfindet, in einer Wochenzeitung – soviel zur Immanenzfrage. Bilder und Objekte werden in der Isolation sehr leicht zum Fetisch. Erst in der Abfolge wird dieser Aspekt vermieden. Gerade ein Künstler wie Jean-Luc Moulène aus Frankreich arbeitet sehr stark mit diesem cinematografischen Sequenzbegriff. Vielleicht kann man hier Godard ins Spiel bringen, der immer sagt: Everything is in-between, tout est entre, alles ist dazwischen.
SR: Und bei vielen der beteiligten Künstler/innen, Nan Goldin und Nobuyoshi Araki oder Jack Pierson, hat dieses Motiv des „getting connected“ diese ganz spezielle autobiografische Bedeutung, indem sie ja auch ihren Lebenszusammenhang ablichten. Nan Goldin hat gesagt, sie habe immer gedacht, Leute, die sie fotografiert, würden ihr nie verloren gehen, bis sie dann draufgekommen ist, daß das eben doch stattfindet – vor allem durch den Aids-Tod. Sie spricht immer davon, daß sie ihre ganz persönliche Welt, das heißt vor allem ihre Freunde, ihr Milieu fotografiert. Ich denke, sie versucht, diesen Schmerz des Loslassen-Müssens mit der Fotografie zu bekämpfen. Bei anderen ist es vielleicht eher andersherum ein Versuch anzudocken: das Objektiv als Saugnapf.
HUO: Zugleich schaffen Zeitschrift und Tageszeitung eine Dispersion der Bilder. Diese „Verteilung“ führt uns zum Kunstbegriff von Morris und der „Arts and Craft“-Bewegung in England. Er hat diesen „art for all“-Begriff geprägt, den Gilbert & George seit den 60er Jahren benutzen und auch sehr systematisch erweitert haben. Gilbert & George sind sicher Vaterfiguren der profil-Ausstellung, weil sie sind die Künstler, die den Begriff der Magazin-Sculpture in den 60er Jahren begründet haben. Damals haben Gilbert & George Spaziergänge im Hyde-Park und anderswo gemacht, da gibt es diese Spaziergang-Bilder und im Zusammenhang damit Arbeiten, bei denen es um Zeit geht. So sind die ersten Zeitschriftenarbeiten entstanden, wo sie große englische Wochenzeitschriften überzeugen konnten, ihnen den Raum für Ausstellungen zur Verfügung zu stellen, wo sie als living sculptures doppelseitig posieren. Was bedeutet es für die Kunst, in so einem öffentlichen Kontext aufzutauchen? Man muß schon auch herausstreichen, daß die Printmedien-Ausstellungen von mehr Menschen besucht werden, als es je eine Ausstellung in Museumsmauern sein kann. Es gibt Millionen Besucher im Lauf eines Jahres. Es geht darum, Ghettos zu verlassen.
SR: Und es geht darum, neue Umgangsformen mit Kunst zu entwickeln. Für mich sind es sehr emanzipatorische Projekte insofern, als dem Betrachter überlassen wird, wie er damit umgeht. Von vollkommener Negierung, einfach überblättern, bis zum Herausreißen. Du kannst dir die Arbeit aus der Zeitung herausreißen, du kannst sie dir mit Tixoband übers Bett kleben. Ich bin jemand, der sich Zeitungsbilder herausreißt und hinklebt und nach ein paar Wochen wieder auswechselt. Ich glaube nicht mehr an den Kunstkauf und das Sammeln, sondern daß Kunst vielmehr eine periodische Bedeutung im Leben hat. So wie Rudolf Burger gesagt hat, es geht heute immer wieder um provisorische Moral, es gibt nicht mehr diese alles verbindendenden Grundsätze, man muß für jede Situation neu entscheiden. Ebenso ist auch die Bedeutung künstlerischer Arbeiten im eigenen Leben ständigen Veränderungen und Neubewertungen unterworfen. Und darum ist es für mich so adäquat, daß ich ein Bild herausreißen und mit Tixo über den Schreibtisch hängen kann und es durchaus die gleiche Wirkung entfalten kann, wie ein 100.000-DM-Gemälde.
HUO: Jetzt sind wir bei Benjamin „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Ich frage mich, ob das eine das andere ersetzt. Ich habe mit Bruce Sterling vor zwei Jahren diskutiert, ob das Print-Medium im Zeitalter des Internets verschwindet. Braucht es überhaupt noch eine gedruckte Seite? Interessanterweise haben sich die Buchverkäufe Sterlings und anderer Autoren, deren Arbeiten im Netz verfügbar sind, erhöht. Mit dem Wachsen der Virtualität gibt es ein wachsendes Bedürfnis nach aktueller Realität. Als das Fernsehen erfunden wurde, hat sich das Radio erneuert. Ich sehe sehr stark eine Komplementarität, und die ist auch wichtig. Nicht im Sinne von „weder – noch“ oder von „oder“, sondern „sowohl als auch“. Wenn Kunst vermehrt in Massenmedien stattfindet, wird weder das Museum noch die Galerie überflüssig. Es wird darum gehen, daß sie sich neu definieren.
(25. März 1996)
Travelling Eye
Gespräch mit Hans-Ulrich Obrist über „Travelling Eye“
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