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Sie sollten dieses Experiment wirklich ausführen. Vielleicht sogar Ihren Urlaub dafür verwenden. Denn vom Zeitraum her sind drei bis vier Wochen zu veranschlagen. Auch ist die gelegentliche Anwesenheit Ihrer Person rund um die Uhr nur von Vorteil. Solche Phasen der Intensität können unter Umständen das gesamte Experiment enorm verkürzen. Die Ausrüstung ist einfach, aber bestimmte technische Voraussetzungen schaffen idealere Bedingungen.
Ein Fernseher auf einem rollbaren, kleinen Tisch zum Beispiel ermöglicht es, ohne großen Aufwand – bedenken Sie die dafür notwendigen Kabellängen – das Gerät problemlos vom Schlafraum in den Wohnraum, ins Bad oder die Küche zu verschieben. Falls Sie eine Terrasse oder einen Balkon haben, sollten Sie nicht an der falschen Stelle sparen und die notwendigen extra Meter Kabel gleich mitberechnen. Mehrere Fernseher, das ist keine Frage, bieten sicherlich beste Vorbedingungen. Das erspart Ihnen das bisweilen doch lästige Hin- und Hergeschiebe.
Sie sollten zumindest ein Fernsehprogramm empfangen, das 24 Stunden am Tag endet. Sicherlich hat auch das Testbild seine Qualitäten, doch zumeist stellt man erst nach Ablauf des Experiments fest, daß ein Textbild etwa eine sehr angenehme Leselampenbeleuchtung schafft. Volle Verkabelung und ein zusätzlicher Empfang über einen oder mehrere Satelliten bieten Ihnen aber eine viel größere Variationsbreite unterschiedlicher Beleuchtungsintensitäten in wechselnden Frequenzen. Für bestimmte Situationen ist es einfach von Vorteil, über 70 verschiedene, voll belegte Kanäle verfügen zu können.
Grundsätzlich wird das Fernsehgerät zu Beginn des Experiments eingeschaltet und läuft dann die kommenden vier Wochen ununterbrochen durch. Den Ton können Sie nach Belieben hinzuschalten. Sie werden ohnedies nach kurzer Zeit darauf verzichten. Verzichten Sie aber soweit wie möglich auf alle anderen Beleuchtungsquellen! Schalten Sie auch regelmäßig, möglichst mit einer Automatik, auf einen anderen Sender. Später, wenn Sie etwa festgestelt haben, welch romantisch stimmungsvolles Lichtspiel ein früher Schwarz Weiß-Film liefert und wie die Beleuchtung eines Actionfilms oder einer Nachrichtensendung hervorragend zum Kochen geeignet ist, können Sie in Ruhe Ihre individuelle Wahl treffen.
Wichtiger ist der Helligkeitsregler. Er erlaubt es, den Raum in gleißende Discoatmosphäre zu tauchen. Auch vor dem Einschlafen und während der Schlafpause lassen sich mit dem Helligkeitsregler beruhigende, meditative Strahlungsintensitäten erzeugen. Seien Sie nicht sparsam mit der Farbe. Die Pegel wollen voll ausgenützt werden. So schaffen Sie sich einen lauen, roten oder grünen Raum.
Ich spreche hier von einer persönlichen Erfahrung, die sich um die Transformation von Information in Lichtwellen dreht. Nachdem ich das beschriebene Experiment über gut sechs Monate durchgeführt hatte, wurden mir alle anderen Lichtquellen geradezu suspekt. Es erstaunte mich nicht zu hören, daß einer der wohlhabendsten Bürger der USA, Bill Gates, der Besitzer von MICROSOFT, die Rechte für eine elektronische, digitale Wiedergabe gemalter Bilder aus dem Pariser „Louvre“ oder der Londoner „Tate Gallery “ erworben hatte. Für sein neu geplantes Privatdomizil sieht er Räume vor, von denen etwa Manets „Frühstück im Grünen“ mittels hochauflösenden digitalen Fernsehbildschirmen erstrahlen soll.
Für die Verwirklichung gibt es derzeit noch Probleme mit der Hardware. Doch die Umwandlung von der reflektierten Strahlung eines gemalten Bildes zur aktiven Strahlung einer All-over-Fernsehwand mit allen Möglichkeiten, sie manipulativ zu verändern, scheint die Aura bekannter Meisterwerke der bildenden Kunst bereits heute einem Prozeß zu unterwerfen, der auch für den Humanbiologen von größtem Interesse ist.
Was passiert mit einem Bild, das vorher den körperlichen Frequenzen des Auges und des menschlichen Körpers ausgesetzt war, wenn dieses Bild nun selbst eine Strahlungsfrequenz aussendet? Das herkömmliche Fernsehbild baut sich in jedem 25ten Bruchteil einer Sekunde neu auf. Obwohl eine Norm für das hochauflösende, digitale Fernsehen noch nicht feststeht, liegen Bildwechsel in dieser Geschwindigkeit außerhalb der Grenzen bewußter Wahrnehmung eines einzelnen Bildes, die die Evolution für den menschlichen Wahrnehmungsapparat als ausreichend angesehen hat.
Wenn es jedoch stimmt, was in einigen Modellen der theoretischen Physik entwickelt wurde, daß sich alle Einzelheiten im Universum in Bruchteilen von Mikrosekunden beständig auflösen und wieder formieren, dann werden Berichte über Erfahrungen mit halluzinogenen Drogen auf einmal lesbar.
Es scheint nicht möglich zu sein, daß der menschliche Wahrnehmungsapparat in dieser Geschwindigkeit sich selbst und seine Umwelt wahrnimmt. Wer will und kann schon in einer Art Ursuppe leben und etwa noch eine Gulaschsuppe essen? Möglicherweise entspricht eine Lichtquelle mit einer Frequenz von 25 Einheiten pro Sekunde auch eher den biophysikalischen Grundlagen des menschlichen Körpers als die traditionelle Welt der Kunst.
So erwerben Sie mit dem eingangs beschriebenen Experiment außer der Fähigkeit, die ästhetischen Qualitäten des Fernsehens zu erfahren, auch die Möglichkeit, den Inhalt der Desinformation zu entschlüsseln, die in jedem einzelnen dieser 1/25 Sekunde-Lichtblitze gespeichert ist.
Kein Wunder, daß in den USA von den gut 70 Kabelkanälen eine wachsende Anzahl nur noch aus Werbeblöcken und kurzen Trailern bestehen, die selbst auch wieder wie Werbung funktionieren. Diese Sendungen können telefonisch mit einem Pay-TV-Code bestellt und auf dem eigenen Bildschirm individuell abgerufen werden. In THE BOX etwa, einem Musikclipkanal, laufen vor dem Hintergrund eines Clips endlose Textzeilen, die Titel und telefonische Bestellnummern der anderen Clips aufzeigen. Das funktioniert wie die alte Musikbox, auch in der Hinsicht, daß jede Bestellung zwischen 2 und 3 Dollar kostet. Kabelanschluß und TV-Gerät sind der Einkaufswagen, um durch den Mediensupermarkt zu fahren und einen kurzen Blick auf die Produkte zu werfen. Hat man ausgewählt, wird an der Kasse auch schon abgerechnet.
Bei meinem Fernseh-Experiment erinnerte ich mich an den Baustadtrat in Rainer Werner Faßbinders Film „Lola“. Als großzügige Geste erhält der Mann vom lokalen Bauspekulanten eines der ersten Schwarz-Weiß-Fernsehgeräte ins Haus gestellt. Nachdem das Gerät eingeschaltet ist, sitzt er für einige Stunden fasziniert vor dem Bildschirm. Bis seine Haushälterin hereinkommt und auch gebannt in die Glotze glotzt. Nach kurzer Zeit fragt sie: „Ist das das Programm?“ „Ja“, antwortet er stolz mit dem Kennerblick, den er sich nach einigen Stunden schon zuspricht. „Das ist das Programm.“ – Er hat sich das Testbild angeschaut.
Rainald Schumacher, geboren 1953 in Duisburg, Maler und Kunstkritiker. Studierte Kunst und Philosophie in Wien, wo er von 1978 bis 1981 eine „anonyme Kunstkritik“ herausgab. Nach Wohnsitzen in Mailand, Berlin und Köln lebt er derzeit in New York. Er ist Korrespondent der führenden Kunstzeitschrift „Flash Art International“ und Gastkurator am New Yorker „Dia Center for the Arts“ (Ausstellung Gerhard Richter).
Symposion 05
Anleitung zum Urlaub mit dem Testbild
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