Portraits of Artists 15

Auszug aus einem Gespräch mit Michelangelo Pistoletto

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Sie haben 1967 einen Kilometerstein genommen und eine Jahreszahl – 1967 eingemeißelt. Das Zeichen für „Raum“ verwandelte sich damit in eine Metapher der „Zeit“. Diese Skulptur erscheint mit als Brennspiegel vieler Fragen, um die sich Ihr Werk dreht.

Die Arbeit heißt „Milestone“. Das englische Wort für Kilometerstein Meilenstein ist auch im Deutschen ein sprechender Ausdruck. Dieser „Milestone“ stand in der Mitte des Galerieraums, als einziges Element der Ausstellung. Ich wollte die Zeit zeigen, unmittelbar anschaulich machen. Da ist der Meilenstein ein Bezugspunkt. der zwar im Raum steht, aber auf die Zeit verweist, auch mit seiner Präsenz als dreidimensionaler Körper. Nach dieser Geste spürte ich, daß es von da an ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gab in meiner künstlerischen Arbeit. Mein ganzes Werk dreht sich in erster Linie um „Zeit“, um das, was wir „Zeit“ nennen. Die Zeit erschloß sich mir zunächst über den Raum, in dem ich mich bewegte – in den Malereien auf großen Spiegeln. Meine Skulpturen und Installationen gehen aus einem Nachdenken über die Zeit hervor, anders als bei den zwei- oder dreidimensionalen Beschäftigungen traditioneller Bildhauer. Mich beschäftigt die vierte Dimension, wenn Sie so wollen, obwohl mit diesem Ausdruck viel Schindluder getrieben wurde und er heute alles und nichts bezeichnet. 

Sie begannen ja auch nicht als Bildhauer, sondern als Maler. Haben Sie anfangs nicht vor allem versucht, der Unverbindlichkeit der abstrakten Malerei der Nachkriegszeit zu entfliehen?

In gewisser Weise, so begann ich 1961 auf Spiegelflächen zu malen. Bald verstand ich, daß es mir anscheinend um einen neuen Raum ging. Die Bildoberfläche (der Spiegel) sollte die abgebildete Person (mich selbst) ganz in sich aufnehmen. Ich forschte nach einem neuen Raum für die Person, und er erschien als zukünftiger Raum, durch den technoiden Metallglanz der polierten Stahlplatte. Der Raum als Grundproblem der Kunst war zuvor in der abstrakten Malerei der fünfziger Jahre, mit der Utopie vom Ende der Perspektive, nahezu verpönt gewesen. 

Sie malten dann Ihr eigenes Abbild und andere Personen in einer Technik, die Ihnen die Zuordnung zur „europäischen Pop Art“ einbrachte, auf lebensgroße Spiegel.

Während ich den Raum erforschen wollte, fand ich „Zeit“. Als ich mein Abbild auf die mineralische Oberfläche mit schwarzer Farbe als Hintergrund auftrug – schwarze Farbe war damals „verboten“, weil sie an den Firnis der alten Maltechniken erinnerte, schien es mir, als ob Zeit in diesem Gemälde und seinem Raum zu existieren begann. Das traf mich wie ein Schock. Alles begann sich zu bewegen. Der Raum trat in das Gemälde auf der Spiegelfläche hinein, als „Hintergrund“ der abgebildeten Person diese war mit einer fotografischen Technik auf die Oberfläche übertragen worden und bewegte sich wiederum in den wirklichen Raum hinein. Zudem ließ ich die Gemälde zwar an der Wand stehen, aber mit den Füßen auf dem Boden. So wurden sie eine Art Tür. Kurzum: Ich begann mich selbst in dieser Auswechselbarkeit aller Bilder und den unendlichen Möglichkeiten wahrzunehmen, die durch den Spiegel in die Realität projiziert wurden, während auch die Realität als Projektion des Spiegels erschien. 

Zwischen diesen frühen Gemälden und dem „Milestone“ entwickelten Sie dann, um 1965/66, aus den Möglichkeiten des neuen Raumbegriffs die „Oggetti in meno“ oder „Minus-Objekte“. Das sind einfache, aber sehr präsente Objekte einer philosophischen Kunst, die Sie zu „Minus-Objekten“, man könnte auch sagen „Negativ Objekten“ erklärten. Ich habe den Eindruck, daß Zeit, Raum und menschliche Existenz seither fast obsessionelle Themen Ihres Schaffens wurden.

Für mich ist es sehr wichtig – auch allgemein in der Philosophie, jeden von uns und die Gesellschaft –, den „Anderen“ und das „Andere“, „I'altro“, zu erfassen. Wir brauchen eine „Kunst des Anderen“, des Verschiedenen, dessen was wir nicht sind. Eines meiner Werke heißt „Um etwas zu erfinden, müssen wir zwei sein“. „Zwei sein“ ist die Voraussetzung und auch der Beginn meiner Arbeit: Die Spiegelgemälde zum Beispiel ändern den Blickpunkt grundlegend. Sie sehen nicht mehr nur die Richtung vor Ihnen, das heißt den privaten und individualistischen Standpunkt des Künstlers, der seine eigenen Vorstellungen, Emotionen, Gefühle und Träume auf eine Leinwand projiziert, sondern Sie sehen auch sich selbst und was hinter Ihnen ist, was ein ganz anderes Verhältnis zu „vor“ und „zurück“, „Tiefe“ und „Oberfläche“ und damit „Zeit“ bedeutet. Anfang der siebziger Jahre beschloß ich dann, auch den Spiegel zweizuteilen oder viele Spiegel räumlich zu wenden. So wie alle Zahlen in der Mathematik durch eine Teilung des Unendlichen bestimmt sind, entstehen auch Raum und Zeit aus dieser Teilung. 

Wozu haben Sie dann auch zwei Spiegel einander gegenüber aufgestellt?

Das begann 1966 mit dem „Kubikmeter der Unendlichkeit“ im Rahmen der „Minus-Objekte“. Das Innere aus Spiegeln können Sie zwar nicht sehen, enthält aber Unendlichkeit, während das Äußere automatisch ein sehr physisches Objekt darstellt, fast wie eine Bombe. Das sind die gleichen Prinzipien wie etwa bei uns selbst: Wir stellen nach außen einen physischen Körper dar, haben aber dieses ganze Spiegelsystem in uns, die Augen sind Spiegel, der Geist ist ein Spiegel der Augen und die Handlungen sind Spiegel des Geistes. 

Von diesen frühen Arbeiten ausgehend haben Sie ein vielfältiges Werk geschaffen, in dem das Prinzip der Teilung als Thematisierung von Zeit innerhalb einer Skulptur auftritt, sei es mit Lumpen, Glas und Wärme, mit der vollen Kugel und der Gitterkugel, mit Glühlampen und ihren Kabeln, die ein Bild formen. Kann Kunst heute alle Materialien verwenden?

Ich habe häufig Dinge verwendet, die auch im Theater vorkommen und meine Materialien, Lichteinfälle und Farben bewegen sich häufig in einem Niemandsland zwischen Skulptur, Malerei und Theater umher. Damit läßt sich auch betonen, daß Kunst ihre eigene Ökonomie hat. Zwischen Essen und Macht der normalen Welt gibt es einen breiten Zwischenraum, den die Kunst wahrnehmbar machen und besetzen kann. Und deshalb hat sich die Kunst dieses Jahrhunderts auch aller möglichen Themen, Materialien und Ausdrucksformen angenommen. Von Anfang an versuchte die Moderne den Punkt zu erreichen, von dem aus die Kunst sich jeglicher Sache in einer kritischen, neuen Perspektive annehmen könne. Dies scheint mir aber lange Zeit hindurch durch einen übertriebenen Individualismus verschüttet worden zu sein. – Nach dem Ende der dreidimensionalen Perspektive blieb für viele nur noch die Egozentrik des Künstlers als Orientierung übrig, wie im Action Painting, der Pop Art und bei Andy Warhol. Auch dem wollte ich von den Spiegelgemälden an entgegenarbeiten.

Sie gründeten dann eine Künstlergemeinschaft, eine Art Kommune.

Nachdem der Umraum, die Menge, durch den Spiegel in meine Bilder getreten war, hatte ich um 1970 den Eindruck, ich sollte mich selbst in die Menge hineinbegeben. Ich suchte nach einer umfassenden, permanenten Kreativität, zwischen mir und den anderen. Der „Zoo“ war ein ständiges Infragestellen, und ein ständiges Kommen und Gehen, eine offene Situation, nicht begrenzt auf eine bestimmte Gruppe, und wir machten Aktionen auf der Straße und in den verschiedensten Orten. 

In der Bewegung „Arte Povera“ haben Sie ab 1968 zahlreiche Gemeinschaftsarbeiten mit Kollegen gemacht, die sich als Künstler verstanden; später im „Zoo“ arbeiteten Sie mit Leuten, die im Gegenteil beschlossen hatten, zusammen zu leben. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Ihre heutige Arbeit mit Kunststudenten an der Wiener Akademie, also mit jungen Leuten, die vor der Entscheidung stehen, Künstler zu werden oder nicht?

Die Kunstakademie ist für mich ein möglicher Zwischenraum: Sie kann ein Raum zwischen der Tradition der Kunst, dem Museum und der Galerie einerseits und der Straße, der Welt außerhalb der Kunst andererseits sein. Sie sollte ein freies Stück Erde innerhalb des Berufs sein, den man gewählt hat – der künstlerischen Arbeit –, aber zugleich fern und bewahrt von den Zwängen der Kunst an sich. Also wieder zwei Richtungen zum gleichen Zeitpunkt. Diese Doppelbewegung bestimmt auch meine Beziehung zu den Studenten, die nicht in meine eigene Arbeit eingehen sollen, sondern die ich soweit bringen soll, daß jeder entscheiden kann, was er tun wird.

(Textfassung: Robert Fleck; publiziert in: Der Standard, 20.12.1994, S. 6)

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