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Hans-Ulrich Obrist: Sprechen wir zuerst über Kunst und Wissenschaft.
Christian Boltanski: Man kann von der Wissenschaft sagen, daß sie irgendwie einem Höhepunkt zustrebt, und auch das ist heute nicht wirklich sicher – zum Beispiel, jemand erfindet etwas, das es bisher noch nicht gab, daraufhin fällt einem anderen etwas anderes ein – es gibt also eine Art von Evolution, eine Art Fortschritt. In der Kunst gibt es das nicht und die Kunst ist heute nicht besser, als sie vor fünfzig Jahren war. Das könnte man wirklich nicht behaupten. Das einzige, was man allenfalls sagen kann, ist: Es verhält sich mit der Kunst so, wie mit dem Wasser eines Flusses. Wir stehen jetzt etwas weiter vorne im gleichen Fluß, wir sind weder besser noch schlechter geworden, aber wir stehen etwas weiter vorne. Auf jeden Fall arbeiten wir genau in der gleichen Weise, mit den gleichen Themen und den gleichen Problemen, von Urbeginn an bis heute.
HUO: Du hast die Rolle des Künstlers oft mit der eines Anwalts verglichen.
CB: Ja, denn ein Wirtschaftsanwalt ist jemand, der die Regeln sehr gut kennt, der sie so gut kennt, daß er sie umgehen kann. Er findet eine Möglichkeit, sie zu verdrehen, eine Lücke zu finden. Ein Künstler macht etwas Ähnliches, er ist jemand, der die Regeln verinnerlicht hat, der sie vollkommen beherrscht und der innerhalb der Regeln eine Veränderung herbeiführt – wenn es auch nur die kleinste Veränderung ist –, dadurch sieht man die Regeln plötzlich anders oder es öffnet sich eine kleine Tür, die man nicht gesehen hatte.
HUO: Es gibt Augenblicke, in denen die Regeln sich für alle verändern.
CB: Es gibt keinen Fortschritt in der Kunst, die Kunst verändert sich nicht und man spricht immer ungefähr von den gleichen Dingen: von der Suche nach Gott, vom Tod, vom Sexus. Aber die Ereignisse der Welt verändern ein wenig den Zugang, den man zu diesen Problemen haben kann, oder die Art, davon zu sprechen. Du weißt, es gab eine bestimmte Vorstellung vom Künstler zu Beginn dieses Jahrhunderts – er könne die Welt verändern, wir werden die Welt verändern –, heute glaube ich, daß niemand mehr daran denkt, die Welt zu verändern. Aber man kann Kleinigkeiten in der Welt ändern. Man kann fast nichts ändern. Man kann jemanden begrüßen. Sie sind verschwunden, die großen Hoffnungen auf Veränderung, die großen Utopien sind eigentlich verschwunden. Ich würde sagen, daß wahrscheinlich sogar die Avantgarde verschwunden ist, sie war übrigens immer irgendwie mit großen Veränderungen verbunden. Jetzt gibt es dafür vielleicht viel zerbrechlichere Dinge, viel intimere Dinge, wie: mit Menschen zusammen sein, Witze machen, Menschen zum Nachdenken bringen oder dazu, sich selbst eine Frage zu stellen. Aber die Fragen sind nicht für alle gleich. Sie sind nicht mehr universal.
HUO: Gibt es nicht heute auch eine mediale Verbreitung aus dem Zentrum heraus? Während der Fluxus-Bewegung in den sechziger Jahren gab es Ereignisse, bei denen wirklich nur fünf bis zehn Leute dabei waren. (.) Zum Beispiel bei der „Manchette“, als du damals die Spaziergänge veranstaltet hast, gab es manchmal gar keine oder nur ganz wenige Zeugen. Wenn man dann daran denkt, was du in New York gemacht hast, diese vier Ausstellungen, da gab es eine enorme mediale Verbreitung. So gesehen sind die Ereignisse sowohl lokal als auch global.
CB: Der traurige Beruf, den ich ausübe, ist der Beruf eines Predigers. Und wenn ich Prediger sage, meine ich damit: schlechter Prediger. Es ist sicher, daß ich in meinem Beruf von Stadt zu Stadt gehe und versuche, Dinge zu sagen, die immer so ungefähr die gleichen sind: Gott ist weit, wir werden sterben, man muß ans Gulasch denken – Dinge dieser Art. Danach gehe ich woanders hin und sage das Gleiche oder etwas Ähnliches. Dann gibt es Leute, die bleiben und arbeiten weiter an diesen Beziehungen zu anderen. Denn ich denke doch, daß es das ist, was man heute macht: zwischenmenschliche Beziehungen herstellen, etwas schaffen, daß. Die Menschen kommen in etwas hinein, von dem sie nicht wissen können, was es ist. Sie wissen nicht, ob es Kunst ist oder nicht, aber irgend etwas berührt sie. Sie haben das Gefühl, daß es sie etwas angeht – denn es handelt sich um sehr allgemeine Themen – und stellen sich vielleicht Fragen zu diesen Themen. Ich persönlich fühle mich immer wohl bei den Alten. Die Themen, die mich interessieren, sind hauptsächlich Themen für die Alten, und es geht wirklich um die Erinnerung, um Fragen im Zusammenhang mit dem Tod, wie ich schon sagte.
HUO: Du hast auch davon gesprochen, Menschen untereinander zu vermischen.
CB: Ich glaube, daß es keinerlei Schwierigkeiten in den Beziehungen zum Publikum gibt oder unter den Leuten, die der Predigt beiwohnen. Eine Schwierigkeit entsteht nur, wenn jemand kommt, der schon eine bestimmte Vorstellung im Kopf hat und der denkt, daß er zu einem Maler der neunziger Jahre kommt oder daß er Kunst sehen wird – und Kunst ist für ihn Malerei –, dann kann es sein, daß er alles ablehnt. Aber wenn die Leute kommen und sehen, daß hier jemand steht, der zu ihnen spricht, also ab diesem Moment gibt es keinerlei Beziehungsprobleme mehr. Sicherlich muß man heute lokal arbeiten. was weiß ich – über Probleme des Viertels. Man muß mit einer Gemeinde, zum Beispiel von der Kirche ausgehend, arbeiten, mit zehn oder vierzehn Leuten, maximal mit hundert. Die Menschen sollen nicht wirklich wissen, was man mit ihnen vorhat, nur, daß es Dinge sind, die sie interessieren, die sie zum Fragen bringen, die sie unterhalten oder berühren.
HUO: Du hast gerade etwas mit einem Gebäude in Halifax gemacht, von dem du gesagt hast, daß man in einigen Jahren vielleicht nicht mehr erkennen kann, daß es sich um Kunst handelt. Geht es dabei auch darum – bei dieser Idee, die Menschen zu vermischen –, daß es plötzlich nebeneinander verschiedene Leute gibt, solche, die zuschauen, die sich interessieren, und andere, die sich vielleicht nicht für Kunst interessieren. Wahrscheinlich ist es jetzt eher möglich geworden, daß sich Kunst an anderen Orten abspielt, die nicht als Kunstplätze gekennzeichnet sind, die sich nicht als Kunstplätze definieren?
CB: Ja, und zugleich handelt es sich auch um eine etwas andere Tätigkeit. Das heißt, neunzig Prozent der Arbeiten die ich mache, werden nicht aufbewahrt. Es gibt sie nur zu bestimmten Gelegenheiten – man kann sie nur an einem bestimmten Ort mit bestimmten Menschen machen. Oft wird mir klar, daß die Menschen, die meine Tätigkeit sehen, sich nicht fragen, ob das Kunst ist oder nicht. Es ist etwas, das sie angeht, eine Frage, die man ihnen stellt oder eine Sache zum Nachdenken. Aber vielleicht interessiere ich mich weniger und weniger für die Kunst. Jedenfalls glaube ich, daß die Vorstellung, die wir von Kunst haben, relativ neu ist und relativ lokal. Künstler sein heißt, ein Wanderprediger sein, ein Bettelmönch, ein Zen-Meister, der durch die Straßen geht, mit einem Stock und einer Kürbisflasche, und der den Leuten Dinge erzählt. Die Form hat für mich jedenfalls weniger und weniger Bedeutung. Ich glaube, daß es keine eindeutige Form mehr gibt bei einer Sache von Qualität. Die formale Qualität ist sehr schwer zu erreichen, darin zeigt sich alles, was gut und nicht gut ist. Es kann etwas geben, das an einem bestimmten Ort funktioniert. Zum Beispiel arbeite ich natürlich anders in einer Fabrik im Norden von England als in der Wiener Kunsthalle. Gleichzeitig ist sicher, daß die Interessen, die ich habe, nicht sehr zahlreich und sehr ähnlich sind. Also ist meine Arbeit ein ständiges Wiederholen und Verändern zugleich.
HUO: Vielleicht ist es interessant, wenn du im Zusammenhang damit über dieses Projekt von Ostern vorigen Jahres in der Kirche sprichst?
CB: Ja, das ist ein sehr spezielles Projekt, das wirklich mit der Liturgie zusammenhängt, mit dem Gründonnerstag oder dem Karfreitag oder dem Ostersonntag, und deshalb ist es auch etwas sehr Einfaches. Wenn wir schon von der Kirche sprechen – ich bin davon überzeugt, daß die erste Beziehung, die man zur Kunst hat oder zu dem, was man Kunst nennt, entsteht, wenn man als Kind in die Kirche geht. Da sieht man den Priester, der plötzlich eine Geste vollführt und diese Geste erklärt auf visuelle Art eine Sache, die ungeheuer kompliziert ist, die ein Mysterium ist. Diese Geste löst bei den Gläubigen ein Gefühl aus, in gleicher Art wie ein Ballett, dem man zusieht, oder ein Gemälde, das man betrachtet: auch hier gibt es zugleich eine Kontinuität – nämlich die der religiösen Geste, und zugleich ist diese Geste jedesmal anders.
Eines der Dinge, das mich zur Zeit belustigt oder das mich zur Zeit interessiert, ist, daß ich glaube, daß es bestimmte Kulturen gibt, die ihr Wissen durch ein Objekt und durch eine Reliquie weitergeben, sie sind stark von der westlichen, christlichen Kultur geprägt. Da denkt man immer daran, daß es irgendwo ein kleines Stück Knochen eines Heiligen gibt, das so unendlich wertvoll ist, daß man es in einem Reliquienschrein aufbewahrt, um den herum man eine Kathedrale baut, in die dann die Menschen kommen, um zu beten. Dieser Gedanke liegt auch der westlichen Museumstradition zugrunde. Es gibt aber auch Überlieferungen, für die es nicht so wichtig ist, eine bestimmte Maske des 16. Jahrhunderts aufzubewahren, denn irgendwie wird sie sicher beschädigt werden, wichtig ist, daß jetzt jemand lebt, der eine herstellen kann. Bei den Japanern werden die Tempel alle zehn Jahre neu erbaut, weil sie so fragil sind. Im Gegensatz dazu gibt es Menschen, die zum Kulturdenkmal erklärt werden, die also selber Denkmäler sind, weil sie eine bestimmte Art von Wissen haben. So kann man sich also vorstellen, daß es mehrere Arten gibt, die Kultur weiterzugeben: entweder durch ein Objekt, eine Reliquie oder durch Vermittlung eines Wissens. Die Mehrheit der Kulturen interessiert sich eher für die Weitergabe des Wissens, so kann man annehmen, daß auch bei uns eine andere Art von Weitergabe denkbar wäre, die nicht über das Museum läuft, sondern die einfach Weitergabe eines Wissens ist, einer Geschichte, damit alle die Geschichte kennen. Ich interessiere mich zum Beispiel sehr für kleine Geschichten, kleine Erinnerungen. Jedes menschliche Wesen erinnert sich an viele Kleinigkeiten. Das heißt, man weiß, wo man das beste Gulasch in Wien ißt, man kann eine lustige Begebenheit erzählen. Das sind Dinge, die sehr vergänglich sind, die zusammen mit der Person sterben. Außerdem gibt es die große Geschichte, diese macht tatsächlich die Menschheit aus.
HUO: Sprichst du von der mündlich überlieferten Geschichte?
CB: Die mündliche Geschichte ist das Wissen; deshalb wünscht man sich Kinder. Denn meistens, wenn man Kinder hat, gibt man ihnen diese Dinge weiter. Man sagt, weißt du, als ich klein war, habe ich in dieser oder jener Straße gewohnt und da hat es herrlichen Rumkuchen gegeben. Diese Dinge verlieren sich sehr leicht. Im allgemeinen gehen sie vom Vater zum Sohn und verschwinden dann. Ich interessiere mich sehr für den einzelnen. Ich finde, daß man nicht von 3.000 Leuten sprechen kann, sondern, daß man immer von einem, und einem, und einem sprechen sollte. Von einem, der gerne Spaghetti ißt, und von dem anderen, der Fußball mag, und vom dritten, der eine reizende Freundin hat, etc. Als ich diese Sache in England gemacht habe, war das einzig Gute daran, daß ich darauf kam – in dieser Fabrik in Halifax, in der es 4.000 Arbeiter gab, die schon lange tot waren, denn es waren die ersten Arbeiter dieser Fabrik –, die Namen aller dieser Arbeiter aufzuzeichnen. Also waren es nicht mehr 4.000 Arbeiter, sondern es war Jonathan Smith, Peter Hash, Lesley Mitchell. Es war dieser und dieser und jener. Natürlich war das ein sehr großer Unterschied. Wenn man die Leute beim Namen nennt, tötet man sie etwas weniger. Wenn man jemanden umbringen will, nennt man ihn nicht beim Namen. (.)
Was macht ihr übrigens mit dieser Serie von Gesprächen? Ihr versucht damit, Erinnerungen festzuhalten. Was machen wir denn heute? Das, was man eine „Konserve“ nennt – das heißt, kleine Geschichten von Leuten aufzuzeichnen. Ihr macht es leider nur von wenigen. Es wäre interessanter, es mit tausenden und abertausenden von Leuten zu machen. Da gebe es jemanden der sagte, ich weiß einen Witz, und ein anderer, ja ich kann Krautfleisch kochen. Das alles sollte man festhalten. Aber sagen wir ruhig, daß wir Geschichten erzählen, darin besteht unsere Arbeit. Tatsächlich versuchen wir immer, von Dingen zu reden, die allgemein genug sind, damit jeder sagen kann: „Ja, auch ich habe das erlebt.“ Das heißt, man spricht zum Beispiel von der Eifersucht – die meisten Menschen waren schon eifersüchtig und können daher sagen, daß auch sie schon das gleiche Gefühl empfunden haben. Da muß ich immer an diese Geschichte denken, die ich amüsant finde, vom ersten Menschen, der auf dem Mond landet, und man fragt ihn: „Wie sieht es dort aus?“ Er sagt: „Wie auf einem Basketballplatz.“ Denn tatsächlich kann man nur das beschreiben, was der andere schon kennt, und nichts, was der andere noch nicht kennt. Nachdem noch niemand auf dem Mond war, kann man den Mond nicht beschreiben – außer dadurch, daß man sagt, er sähe aus, wie ein Basketballfeld. In Wirklichkeit sagt man nur das, was auch der andere weiß, man spricht immer nur von dem, was der andere schon kennt. Dann sagt der andere: „Ja, das bin ich.“ Deshalb habe ich mir vorgestellt, daß der Künstler jemand ist, der einen Spiegel vor sich stehen hat. Er selbst existiert gar nicht mehr und jeder, der ihn anschaut, sieht sich selber und sagt: „Ja, das bin ich, das ist meine Geschichte.“ Nachdem man weiß, daß ein Kunstwerk immer durch den Betrachter geschaffen wird und nicht durch den, der es gemacht hat, sieht es jeder anders. Wenn ich sage, ich bin sehr durstig, oder wenn ich sage, ich habe Kopfweh, kann man das nur verstehen, wenn man selber durstig war oder Kopfweh gehabt hat. Man wird also nicht mein Kopfweh nachempfinden, sondern etwas Ähnliches, das das eigene Kopfweh ist. Daher können wir miteinander nur durch das kommunizieren, was zwischen uns ist, es ist die eigene, kollektive Erfahrung. Der Künstler kann nur die persönliche Erinnerung des einzelnen deutlicher auslösen oder ein Gefühl verstärken, das der andere schon in sich trägt. (.)
Es steht fest, daß die großen Utopien heute jedermann Angst machen, weil sie fast immer mit Massaker verbunden sind. Immer wenn man glaubt, Recht zu haben. Da gibt es zum Beispiel die Spaltung zwischen der jüdischen und der christlichen Religion; der wesentliche Grund, warum sich diese beiden Religionen, die einander sehr ähnlich sind, gespalten haben, liegt darin, daß die Christen universal sein wollten. Die Juden hatten dieses Bedürfnis, die anderen zu konvertieren, viel weniger, praktisch überhaupt nicht. Aber aus diesem Bedürfnis heraus haben die Christen die Indianer massakriert, die Schwarzen gefoltert ebenso wie auch die Juden, etc. Alles, weil sie Gutes tun wollten, weil sie die anderen bekehren wollten, weil sie sicher waren zu wissen, was für alle gut ist. Da die Juden dieses Bedürfnis nicht hatten, den anderen das Gute weitergeben zu wollen, haben sie niemanden umgebracht. Sowie man versucht, eine Regel – und sei sie auch noch so gut – auf die ganze Welt anzuwenden, kann man sicher sein, großes Unheil anzurichten. Zum Beispiel jemand wie Pol Pot in Kambodscha war jemand, von dem ich sicher bin, daß er die besten Absichten hatte, daß er das Wohl seines Volkes wollte. Aber für das Wohl seines Volkes hat er sein ganzes Volk umgebracht. Immer wenn man also die eigene Vorstellung zu vielen Menschen aufzwingen will, gibt es Probleme. Das passiert ununterbrochen. So etwas gibt es auch bei der Architektur – beim Bauhaus zum Beispiel. Deshalb hat man heutzutage wirklich Angst vor Ideologien, denn man denkt, wenn man seine Utopien auslebt, wird es dramatisch und man wird unmenschlich. Das einzige was man tun kann, ist wieder ganz klein anzufangen, mit kleinen Gesten, mit ganz kleinen Kämpfen. Man kann nur hoffen, daß diese kleinen Gesten und kleinen Kämpfe auf die Dauer zu etwas führen, etwas verändern können. Sie führen aber nicht mehr zu allgemeinen und globalen Utopien. (.)
HUO: Du machst also die Notwendigkeit eines Projekts von der jeweiligen Situation abhängig?
CB: Also, das versuche ich, zwar bin ich nie sicher, ob es eine Notwendigkeit gibt, aber ich versuche, eine zu finden, und dann weiß ich genau, daß das Projekt funktionieren wird. Aber glücklicherweise ist das alles viel komplizierter. Sicherlich wird es immer Künstler geben. Ich selber, wenn ich auch keine Aquarelle male. aber es gibt Künstler, die in ihren Ateliers Aquarelle malen, das ist auch schön und das gibt es, auch die Vorstellung im Atelier zu sitzen und kleine Holzstückchen aneinander zu reihen und das dann zu betrachten und es schön und wichtig zu finden, das ist auch gut. Nur taucht da die Gefahr auf, daß es eines Tages niemanden mehr gibt, der auf Fragen antwortet, die man ihm stellte, oder daß es nur noch jemand ist, der wie eine Art Publizist einfach antwortet – ohne jeden Glauben und ohne jede Persönlichkeit. Deshalb unternehme ich immer die gleichen Aktivitäten, ich wiederhole mich, damit es eben einen Menschen gibt, der wirklich hinter den Projekten steht. (.)
HUO: Deine Kunst ist nicht expressionistisch, sie ist existentialistisch mit einem minimalistischen Aspekt?
CB: Sie scheint mir eher naturalistisch zu sein. Es ist eine naturalistische Kunst. Jedenfalls will sie Gefühle wecken. Besonders zur Zeit interessiere ich mich immer weniger für die Kunst, die sich um Kunst dreht, für die Kunst, die mehr rational als emotional ist. Wie ich vorhin schon sagte, will ich mich mehr und mehr für Formen der Kunst interessieren, die offensichtlich sehr verschieden sind. (.)
HUO: Zu einem bestimmten Zeitpunkt gab es den Film, es gab die Malerei, es gab verschiedene Unterschiede und Trennungen, die scheinen sich jetzt mehr und mehr zu verwischen. Du verwendest eigentlich alles?
CB: Die Medien sind nicht mehr wirklich wichtig. Es handelt sich darum, irgendwo hinzugehen und dann in Tränen auszubrechen. Ja, das ist alles. Ich glaube wirklich – selbst wenn es grotesk scheint – an die Tätigkeit des Wanderpredigers. Aber ich bin wirklich kein heiliger Prediger, ich bin ein zweifelhafter Prediger, aber ich glaube an die Tätigkeit des Predigers und ich glaube, daß es sich dabei um eine ungeheuer ernste und wichtige Sache handelt, die gar nicht komisch ist. selbst wenn sie komisch erscheint: sie ist nicht komisch.
HUO: Wir könnten da vielleicht über Karl Valentin sprechen, du schätzt Valentin sehr?
CB: Ja, ich schätze Valentin sehr und ich finde, daß er sehr ernsthaft ist und sehr philosophisch und sehr berührend.
HUO: Vor zwei Jahren hast du im Valentin Museum ausgestellt?
CB: Ja, es hat mich sehr gefreut, dem Valentin Museum einen sehr großen Teil meines Werkes schenken zu können. Aus diesem Anlaß hatte ich dort eine große Ausstellung. Es ist ein sehr, sehr schönes Museum, in dem sehr viele Werke Valentins ausgestellt sind, auch Erinnerungen an ihn. Übrigens ist es ein vielbesuchtes Museum, das wiederum aus ganz verschiedenen Blickwinkeln gesehen wird. Jeder kann daraus mitnehmen, wozu er Lust hat. Einige meiner Freunde sagen, daß Duchamp sich von Valentin hat inspirieren lassen. Beide waren zur gleichen Zeit in München. Viele Leute finden, daß es dort nur lustige Witze zu sehen gibt, so wie bei der Installation in dem New Yorker Bahnhof viele Leute sagten: „Schau, das ist das neue Fundbüro.“ Andere lachten und andere wieder waren bewegt, andere dachten an. dachten, wovon ist das alles übriggeblieben? Sind die Leute, denen die Dinge gehört haben, gestorben? Wofür stehen diese Toten? Sogar als ich Kleider am Quai de la Gare in Paris verkauft habe oder in der Serpentine Gallery in London, wurde das einerseits so interpretiert, daß es sich um eine Ausstellung mit Plastiken handelte – weil die Kleider in Haufen lagen, dachte man an Plastiken –, andererseits war es für die Mehrzahl der Leute einfach eine Gelegenheit, günstig Kleider zu kaufen. Also gab es zwei verschiedene Möglichkeiten zu sehen, was ausgestellt war. Das interessiert mich immer, wenn es nicht nur eine Sicht gibt, sondern mehrere. (.)
HUO: Wenn du Ereignisse entstehen läßt, oft sehr vergängliche Ereignisse, von denen keine Spuren übrigbleiben, wie siehst du das im Vergleich zum Theater oder zu einem Konzert?
CB: Ich denke, daß es ähnlich ist. Der Unterschied liegt darin, daß ich in meiner Tätigkeit mehr mit dem Raum als mit der Zeit arbeite. Im Theater gibt es immer einen Anfang und ein Ende und dann etwas, das sich dazwischen abspielt. Während es bei dem, was ich mache, im allgemeinen weder einen wirklichen Anfang noch ein Ende gibt – und deshalb geht es dabei nicht um die Zeit, sondern um den Raum. Außerdem existiere ich nicht als Schauspieler, es ist der Zuschauer, der zum Darsteller wird. Es sind die Leute, die Kleider suchen, die zu Darstellern ihrer eigenen Stücke werden. So wird der Zuschauer zum Darsteller und es gibt keine Trennung zwischen dem sitzenden Zuschauer und dem Darsteller auf der Bühne, man wartet auf nichts. Es gibt keine drei Klopfzeichen, nach denen sich die Zuschauer setzen und das Stück beginnt. (.)
HUO: Könntest du über deine Tätigkeit als Lehrer an der École des Beaux-Arts in Paris sprechen?
CB: Ich sage immer, es ist erstaunlich, daß es noch einen Ort gibt, der vollkommen nutzlos ist. Dort sehe ich Leute, die man bezahlt, und Studenten, die nicht bezahlt werden, die aber sehr viel kosten – und das alles, um über Dinge zu diskutieren, die vollkommen unnötig sind. Nachdem natürlich die unnötigsten Dinge am wichtigsten sind, ist es schön, daß es noch Orte gibt, die vollkommen nutzlos, nein, die nicht direkt nutzbar sind, die nirgendwo hinführen. Unser aller Leben ist vollkommen absurd. Wenn man so will, ist es – von außen her gesehen – vollkommen unproduktiv und absurd. Vielleicht liegt darin übrigens sein Wert. Es ist merkwürdig, daß man uns irgendwie finanziert, daß man uns irgendwie beschützt – denn was machen wir schon? Es hat keinen Sinn. Warum installiert man alte Möbel in einer häßlichen Garage in Wien, die man „Kunsthalle“ nennt? Welchen Sinn hat das? (.)
Ich bin sehr, sehr pessimistisch dem Leben gegenüber. Das heißt, ich bin nicht gläubig, leider bin ich nicht religiös, und deshalb glaube ich, daß wir überhaupt keinen Sinn haben. Das heißt, daß wir uns um uns selber drehen wie die Unglückseligen, ohne zu wissen, wo wir hinwollen. Wie die armen Ameisen, aber die wissen wenigstens, wo sie hingehen. Wir wissen es absolut nicht. Von Zeit zu Zeit steigt jemand auf uns, fünfzig werden durch Zufall umgebracht, fünfzig nebenan überleben, dann gibt es eine zweite Hälfte, man bringt fünfzig andere um. Alles ist vollkommen zusammenhangslos, selbst die Bezeichnung „Zufall“ wäre noch zu positiv dafür. Das einzige, was man behaupten kann, ist, daß alle diese Menschen, die sich im Kreis drehen und die rein gar nichts sind, tatsächlich alle verschieden sind, irgendwie verschieden zumindest. Man kann sagen, das ist es, was ihre Menschlichkeit ausmacht. Aber sicherlich gibt es kein Ziel, außer dem Wunsch, irgendwohin zu wollen. In meiner Arbeit kommen auch immer viele Leute vor, und ich glaube, das ist sogar das einzige, was alle meine Arbeiten gemeinsam haben, daß immer viele Leute darin vorkommen.
HUO: In der Malerei wurden oft viele Menschen dargestellt, wenn ich an David oder Courbet denke. Man sieht viele, viele Menschen – durch die Fotografie hat sich dieser Prozeß noch beschleunigt.
CB: Die Fotografie hat zur Folge, daß man sagt, etwas ist wahr. Das Foto hat zwar absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun, aber man sagt dann: Es hat wirklich so jemanden gegeben, es gab eine Person, die so ausgesehen hat. Einen ähnlichen Eindruck hat man manchmal, wenn man Portraits anschaut, aber es ist nicht genau dasselbe. Das Foto, nachdem es maschinell funktioniert, gibt einem die Vorstellung von einer direkten Verbindung mit der Person, den Beweis, daß es diese Person gegeben hat. Gerade wenn man die Fotos von den toten Schweizern sieht, interessiert mich daran, daß, als die Fotos gemacht wurden und sie natürlich noch lebten, viele von ihnen gelächelt haben, die meisten haben übrigens gelächelt. Sie konnten ja nicht wissen, daß es ihr letztes Foto sein würde, das Foto, das ich als letztes Foto auswählen würde und mich fragen, warum sie darauf lächeln, was an diesem Tag passiert sei? Das heißt, daß alle Menschen vor der Kamera oder vor Fotoapparaten lächeln. Eines der schrecklichsten Fotos die ich kenne, ist das von einer Deportiertengruppe, die bald danach vergast worden ist, deshalb wurde sie fotografiert. Ein junges Mädchen lächelt auf dem Foto – es ist gewohnt zu lächeln, wenn man es fotografiert. Man lacht also immer, wenn man fotografiert wird.
HUO: Deine erste Ausstellung fand in einem Kino statt.
CB: Ja, um über das Kino zu sprechen. Ich habe immer gesagt, daß es einen großen Unterschied gibt zwischen „Bonnie und Clyde“ zum Beispiel, der ein ungeheuer optimistischer Film ist. Wenn auch alle zum Schluß sterben, sterben sie doch für eine Veränderung, für das Gute. Wenn man jetzt die aktuellen Filme sieht, von Lynch oder Tarantino, so sind diese Filme vollkommen pessimistisch. Denn die Menschen wissen weder, warum sie töten, noch, warum sie sterben sollten. „Bonnie und Clyde“ ist vollkommen schwachsinnig. Sie leiden, sie sterben – aber sie sterben, damit sich die Welt verändert, weil die Welt einen Wert darstellt. Heute fällt es uns immer schwerer, an so etwas zu glauben. Die Leute sterben aus Dummheit, durch Zufall. Wenn ein Vietkong starb, sagte man: „Es ist furchtbar, aber er stirbt, damit es einmal das Glück auf Erden gibt.“ Wenn heute ein Bosnier stirbt, stirbt er, weil er Pech hat oder aus Bosheit, aber er stirbt nicht für die Verbesserung der Welt, zumindest nicht direkt oder nicht so sehr. (.)
Um mit der Predigt fortzufahren – zur Zeit ist Gott weit entfernt, Gott ist sehr weit weg. Was heißt Gott? Ich bin nicht gläubig, aber die Vorstellung von der Straße, die Vorstellung vom Weg ist sehr, sehr weit weg. Der Gedanke, irgendwo hinzugehen, liegt uns sehr fern. Man kann nirgends mehr hingehen. Das einzige, woran man sich halten kann – um unsere nette Plauderei von „France Culture“ zu beenden (lacht) –, ist, tatsächlich wieder auf etwas sehr Persönliches zurückzukommen, auf das Individuum.
(Wien, August 1995)
Portraits of Artists 40
Gespräch mit Christian Boltanski (German text)
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