Eiserner Vorhang 2019/2020

Das trojanische Pferd

In diesem Jahr begleitet „Das trojanische Pferd“ von Martha Jungwirth den Besucher der Wiener Staatsoper durch die Opernsaison. Der Blick fällt auf ein großes Pferd in Seitenansicht, das aus schwungvollen und vorwiegend rot- und brauntönigen Pinselstrichen erschaffen wurde. Im Kontrast zum tonigen Packpapier sticht das leuchtende Rot stark hervor, Farbspritzer und Malspuren sind darauf sichtbar. Die einzelnen Linien konstruieren als Raumgerüst den Tierkörper, wobei die über die Silhouette hinaus schwingenden Pinselstriche die raumgreifende Dynamik des Pferdes potenzieren. Die Farben unterstreichen den machtvollen Auftritt des mit fast trotzig stolzem Kopf präsentierten Pferdes.

Die Farbe Rot hat für Martha Jungwirth magische Kraft und nimmt einen besonderen Stellenwert in ihren Werken ein. Rot steht für Zorn, Blut, Leben, Feuer und maximale Energie. Und gleichzeitig ist Rot die Farbe der Aggression und der Zerstörung. Diese Ambivalenz findet sich nicht nur in der Interpretation der Farbe, sondern auch in der Darstellung des Tieres selbst. Denn zum einen ist es ein starkes und energiegeladenes Tier, zum anderen wirkt es in seiner Gesamterscheinung gleichzeitig fragil und verletzlich. Der inhaltlichen Widersprüchlichkeit entspricht auch die formale Gestaltung, da dem realen, lesbaren Darstellungsgegenstand, dem Pferd, eine abstrakte Formensprache für die Bildkonstruktion gegenübersteht.

„Meine Kunst“, sagt Martha Jungwirth, „ist wie ein Tagebuch, seismografisch. Das ist die Methode meiner Arbeit. Ich bin dabei ganz auf mich bezogen. Zeichnung und Malerei sind eine Bewegung, die durch mich durchgeht. Durch meine Wahrnehmung und meine Gestik wird es etwas anderes. Das Bild ist ein intelligentes Fleckengefüge, nichts Festgefahrenes. Es geht um das Fluide, Durchsichtige, Offene.“ Jungwirths Bildgegenstände dienen als Inspirationsquellen und sind der Katalysator für eine Auseinandersetzung mit deren innerem Klang, der Atmosphäre, und der von Jungwirth unsichtbar wahrgenommenen Realität. Das Papier wird zur Partitur der eigenen Wahrnehmung und reagiert durch die Farbklänge, durch die Fleckenstrukturen, gleichzeitig als Resonanzkörper der innewohnenden Empfindung für das Sichtbare. „Mein ästhetisches Prinzip habe ich schon vorher im Kopf. Dieses auf Papier zu bringen, das ist ja oft ein weiter Weg.“

Das trojanische Pferd hat durch die Überlieferung, die durch Homers Odyssee oder später auch durch Vergils Aeneis weitererzählt wurde, einen ganz besonderen Stellenwert. Der Mythos erzählt von einem übergroßen hölzernen Pferd, das die Griechen im Krieg um die Eroberung der Stadt Troja nach zehn Jahren bauten, um die bislang erfolglose Belagerung erfolgreich zu beenden. Ein Seher riet ihnen, nicht mit Gewalt, sondern mit einer List ihr Ziel zu erreichen. Die griechischen Krieger krochen in den Bauch des Pferdes, um ihre Aufgabe und den Abmarsch der Truppen vorzutäuschen. Danach wurde den Stadtbewohnern eingeredet, dass es ein Weihgeschenk der Griechen an die Götter sei. Trotz aller Warnungen zogen die Trojaner das attraktive Pferd, und somit die griechischen Soldaten in die Stadt, woraufhin Troja zum Untergang verurteilt war.

Für Martha Jungwirth ist das trojanische Pferd ein Topos für unsere abendländische Kultur und ihre wechselhafte Geschichte. Die Kentauren, halb Mensch und halb Pferd, sollen brutal und lüstern gewesen sein, einer allerdings, Chiron, sei weise und gütig gewesen und hätte viele Helden, so auch Achill erzogen. Sie symbolisieren andere Welten und Sphären und verweisen auf fremde Systeme, wodurch sie die Grenzen von Normen und generell vereinbarten Wahrnehmungszusammenhängen überschreiten. So ist auch das dritte Pferd der vier apokalyptischen Reiter rot und symbolisiert wiederum Krieg und Gewalt. Das Bild des auf dem Pferd reitenden Todes ist mit Schrecken besetzt, mit Angst und Täuschung – wie es auch in der griechischen Mythologie im listigen Kampf um die Stadt Troja Sieg und Leid in einem bringt. In jedem Fall ist das Pferd ein Symbol der Bewegung und der Veränderung, von Kraft, Freiheit und Leidenschaft.

Es ist aber für Martha Jungwirth auch ein einfacher Topos für Griechenland, wo sie sich besonders in den letzten Jahren gerne und häufig aufhält. Dort wird sie von der Kultur und Landschaft künstlerisch inspiriert. Für Martha Jungwirth sind ihre Reisen Inspirationsquellen, oder – wie sie selbst sagt – auch „Malfluchten“. Die Arbeiten entstehen nicht immer vor Ort, sondern mitunter auch erst nach der Rückkehr im Atelier. Die komprimierte Quintessenz ihrer wahrgenommenen Eindrücke übersetzt sie in lichtdurchflutete Farbakkorde und Liniengeflechte. Jungwirth bewältigt darin aus sich heraus die Aufgabe aller Kunst, nämlich Farbbewegungen in einem Bild zu vereinen und solcherart „Rhythmen ohne Ende“ zu erzeugen, wie dies Robert Delaunay zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingefordert hatte. Kontrastreich mit Farben zu gestalten beinhaltet die Option, ihnen ein Eigenleben zu gewähren, wobei die innewohnenden Farbklänge die emotionale Ebene berühren können und sollen. Die Malerei habe nicht nachzuahmen, sondern müsse neue Wirklichkeiten setzen, oder, wie Paul Klee sagt: „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar!“

Das trojanische Pferd von Martha Jungwirth ist weit losgelöst von einem realen Tier, es ist ein Energiebündel, das viel Freiraum zur persönlichen Betrachtung erlaubt. Dieses Pferd besteht nicht aus monotonen und reizlosen Lauten. Vielmehr komponieren die schwungvollen Pinselstriche eine Symphonie an vibrierenden Farbströmen, die alle sensiblen Klangvariationen und faszinierenden Zwischentöne der musikalischen Welt in sich tragen.

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