Eiserner Vorhang

Darf der Eiserne Vorhang unfertig sein? Über Performanz und Latenz

1954 verbrachte Francis Bacon eine lange Zeit in einem Hotel im englischen Oxfordshire und malte dort die aus sieben dunkelblauen Leinwänden bestehende Reihe „Man in Blue“. Als Modell diente ihm ein exzentrischer Gast, den er an der Hotelbar kennengelernt hatte. In „Man in Blue 1“, das Teil der Sammlung des Boijmans Van Beuningen Museums in Rotterdam ist, schuf Bacon einen Raum, in dem der Mann sitzend dargestellt ist. Das Gesicht des Mannes wirkt, als wäre es ausradiert, den Vorhängen haftet etwas von einem Gitter an.

„Love is the Devil: Study for a Portrait of Francis Bacon“ ist ein Film von John Maybury aus dem Jahr 1998. Er konzentriert sich auf Bacons schwierige Beziehung zu einem anderen Exzentriker. Als der Film 1999 im Rahmen des Rotterdamer Film Festivals gezeigt wurde, war es mir als damaliger Direktor des Boijmans-Museums gelungen, unsere Kuratoren davon zu überzeugen, das Gemälde anlässlich der Filmvorführung „live“ auf der Bühne des Rotterdamer Theaters auszustellen. Das berühmte Kunstwerk wurde kurz vor den Ansprachen und Einführungen auf einer Staffelei hereingebracht und blieb bis zur eigentlichen Filmvorführung dort stehen.

Dazu muss ich sagen, dass uns das 1998 von museum in progress ins Leben gerufene Projekt „Eiserner Vorhang“ unmittelbar inspiriert hat. Immerhin hatten unsere Wiener Kollegen ihr Projekt „eine Ausstellungsreihe“ genannt, mit der die „Brandschutzwand zwischen Bühne und Zuschauerraum in einen temporären Ausstellungsraum“ verwandelt wird. Damals verfolgten wir die vielen Aktivitäten von museum in progress in Wien sehr genau, da wir behaupteten, das Boijmans-Museum wäre ein echtes museum in progress. Wir wollten das Museum erweitern und an Orte bringen, die bis dahin von keinen Ausstellungs- und Sammlungsaktivitäten berührt gewesen waren.

Dieses Nebeneinander von „Man in Blue 1“, einem Gemälde von Bacon in Fleisch und Blut, und einem Film über das Leben desselben Malers war interessant: Die Immobilität des Gemäldes, der die Zeit des bewegten Bildes gegenüberstand. Bei der Reihe „Eiserner Vorhang“ in Wien ist dieselbe Divergenz am Werk. Nicht anders als im Film stützt sich die Struktur von Musik und Oper auf den Zeitablauf: die Zeit vor und auf der Bühne beziehungsweise „zum Raum wird hier die Zeit“ (Parsifal). Im Kontext der „Lebendigkeit“ eines Theaters oder einer Bühne dürfte sich die Immobilität eines Gemäldes (wie die meisten Bühnenbilder) eher fremd anfühlen. Es handelt sich jedoch um eine interessante „Fremdheit“: um die Spannung zwischen „Performanz“ und „Latenz“, oder aus meiner Sicht um Dinge, die nicht eintreten oder anders eintreten als erwartet.

Doch bevor wir uns in diesen Aspekt vertiefen, der meines Erachtens das Herzstück des Wiener Projekts ist, sollten wir uns mit dem „Zeit-Raum“-Merkmal des Theatervorhangs an sich näher befassen. Die Tradition, dass Aufführungen durch das Heben und Senken eines Stoffs akzentuiert werden, geht auf die Antike zurück. In jüngerer Zeit ist es mitunter so, dass vor dem Vorhang bereits etwas passiert, bevor das eigentliche Stück überhaupt begonnen hat. Der Hauptgrund für diese, dem Stück vorhergehenden Prologe, die den Zeitpunkt für den Beginn des Stücks unscharf werden lassen, dürfte ein Sinn für mehr Realismus sein. Dass nämlich die Aufführung an eine Geschichte anschließt, die schon einige Zeit vorher begonnen hat. Die Strategie ist riskant, da sie das Publikum oft in Unruhe versetzt: Sind wir „drinnen“ oder sind sie „draußen“? In modernen Stücken wird der eiserne Vorhang mitunter auch benutzt, um einen solchen Verdoppelungseffekt zu erzeugen, in den meisten Fällen, um einen „anderen“ Übergang vom Vorspiel zum Spiel zu schaffen. Die Reihe „Eiserner Vorhang“ an der Wiener Staatsoper tut das auch – jedes der „Bilder“ ist für die Dauer einer Saison präsent, und somit begleitet die „Vor-Szene“ desselben Bilds das Publikum verschiedener Aufführungen.

Das jedoch bringt uns zur „Latenz“ und zur produktiven Zweideutigkeit dieser sich „außerhalb“ befindlichen Bilder oder „ausgestellten Kunstwerke“ – zu einer Ambiguität, die sich insbesondere auf die stattfindenden Aufführungen, die Kombination aus Musik und Text, bezieht. „Das Außerhalb ist, wenn auch auf einem großen und ungewohnten Umweg, eine Form des Innerhalb“, schreibt Georg Simmel in seinem Essay „Das Abenteuer“. Anselm Haverkamps Bemerkungen und Texte zur „Latenzzeit“ befassen sich ebenfalls mit diesen unheimlichen, die Zeit verschwimmen lassenden Erfahrungen. Im Kontext des Wiener Projekts lässt sich seine Definition von „Latenz“ besonders gut anwenden. Haverkamp versteht unter „Latenz“ eine auf Dauer sinnvolle Rekonfiguration einer leitenden „Figur in Dekonstruktion“. Folglich definiert er Kultur als „Umgang mit dem im Eigenen lauernden Andern“. Die auf dem eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper ausgestellten Kunstwerke so hervorragender KünstlerInnen wie Tacita Dean, Richard Hamilton, David Hockney, Maria Lassnig, Cy Twombly oder Kara Walker, um nur einige zu nennen, können tatsächlich genauso verstanden werden. Sie sind jedes Mal aufs Neue zu lesen. Ihre „Ambiguität“ beruht nach Haverkamps Vorgänger und großem Vorbild, dem Philosophen Hans Blumenberg, auf „der Unbestimmtheit samt der ihr nachgesagten Unendlichkeit“. Oder in Haverkamps eigenen Worten im Essay „Die Zweideutigkeit der Kunst“: „Was da ragt, hängt oder sonst wie insistiert, ist die Schwelle der Unfertigkeit, auf der die Kunst ausharrt, allen politischen oder ‚anthropologischen‘ Zumutungen zum Trotz.“

In einem Gespräch über das Theater, das ich vor kurzem mit Anselm Haverkamp führte, sagte ich: „Wir müssen den Mut haben, das Theater als eine Ausstellung zu konzipieren und umgekehrt. Daraus könnte eine dritte Form entstehen, in der das Unfertige, das Unsagbare und das Unsichtbare eine fundamentale Rolle spielen.“ Darauf entgegnete Haverkamp: „Das sind strukturelle Zusammenhänge, die räumlich sind, und sie sind räumlich, weil sie im Verhältnis zur Zeit zu denken sind. Denn in diesem Fall ist nicht die Zeit das emanzipatorische, fortschreitende Moment, sondern der Rückschritt in den Raum. Der Raum rekonstruiert den Lauf von Zeit und in diesem zurückgenommenen Raum kommt man zu dem, was Chris ‚das Unfertige‘ nennt.“ Auch in diesem Sinne wird das Projekt von museum in progress in Wien nie fertig sein, selbst wenn es bereits den zwanzigsten „Eisernen Vorhang“ in der Wiener Staatsoper präsentiert.   

(2017)

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