Symposium 06

Ein Ding ist ein Thing – eine (philosophische) Plattform für eine (europäische) Linkspartei

Der Fall der Berliner Mauer hätte uns alle klüger machen müssen. Der Wegfall des Systemgegners eröffnete auch in der politischen Debatte die Möglichkeit, die Früchte des Friedens zu genießen und aufzuhören, Argumente unabhängig von ihrem intellektuellen Gehalt nur deshalb zu verwenden, weil sie als Waffen im Kalten Krieg taugten.

Liest man jedoch die Texte der heutigen Führer der europäischen Linken trifft man auf das genaue Gegenteil. Anstelle der großen Palette unterschiedlicher Standpunkte, die man in friedlicheren Zeiten erwarten könnte, findet man stereotype Äußerungen, ganz so, als wäre der Krieg noch nicht vorbei. „Globalisierung“, „Freiheit der Märkte“, „Deregulierung“, „Flexibilisierung“, „Informationstechnologie“, so heißen die überall gleich lautenden Schlagwörter, nicht zu vergessen das neue Modewort „Innovation“.

Mit dem folgenden Text möchte ich dazu auffordern, die Früchte des Friedens zu ernten; dazu werde ich einige der Grundlagen der vergangenen Fehden zwischen Links und Rechts überprüfen und eine sehr knappe, zehn Punkte umfassende Plattform für die Formulierung eines neuen Unterschieds zwischen Links und Rechts vorstellen, der nicht in der Tradition der heute überholten Unterschiede aus dem Kalten Krieg steht.

Erster Grundsatz: Sollen wir die Modernisierung modernisieren?

Ich bin nicht der Meinung, daß eine linke Partei um jeden Preis der Modernisierung das Wort reden soll, als ob eine weitere Modernisierung noch immer auf der Tagesordnung stünde. Sicherlich verband sich mit der Linken in der Vergangenheit die Idee des Fortschreitens der Geschichte, der große Fortschrittsmythos, der Pfeil der Zeit, der aus den Fesseln der Rückständigkeit befreit und uns in eine emanzipierte Zukunft führt. Die Zeiten haben sich jedoch so stark verändert, daß selbst die Art des Wandels sich verändert hat. Der Pfeil der Zeit existiert nach wie vor, er bewegt sich immer noch vorwärts, aber er zeichnet nicht mehr den Weg von der Sklaverei zur Freiheit, sondern von Komplexität zu höherer Komplexität. Um es etwas provokativer zu formulieren: Das Streben nach Emanzipation ist nicht mehr die Losung der Linken.

Zweiter Grundsatz: Die besondere Verantwortung Europas

Europa hat die Moderne erfunden und ist sozusagen für deren Aufhebung verantwortlich. Meiner Ansicht nach sollte daher eine linke Partei ihr Augenmerk nicht ausschließlich auf die Sorgen und Nöte der Vereinigten Staaten richten, die zu mächtig, zu isoliert, in gewisser Weise auch zu engstirnig sind, um sich für die spezifisch europäischen Probleme der Neugestaltung der Moderne zu interessieren. Eine linke Partei sollte die Zukunft Europas in Abgrenzung von der der USA entwerfen und dabei beachten, daß der Kalte Krieg dabei keine Rolle mehr spielt. Das Konzept und die Vorstellung einer europäischen Zukunft kann tatsächlich nur die Linke entwickeln, denn die Rechte – zumindest deren neoliberale Ausprägung – ist lediglich in der Lage, eine universalistische Zukunft zu entwerfen, die in Wahrheit eine amerikanische Zukunft ist.

Dritter Grundsatz: Vom Nacheinander zur Gleichzeitigkeit

Das Hauptproblem, das sich einer linken Partei stellt, besteht nicht mehr darin, „die Revolution durchzuführen“, und auch nicht darin, radikale Revolutionen durch allmähliche Reformen zu ersetzen, sondern darin, die Koexistenz zwischen vollkommen heterogenen Arten von Menschen, Zeiten, Kulturen, Epochen und Institutionen zu bewältigen. Anstelle der nun leeren Träume von Revolutionen sähe sich eine linke Partei vor die völlig unerwartete (und wahrhaft revolutionäre!) Aufgabe gestellt, in einer Welt, die von keiner Revolution mehr vereinfacht werden kann, Koexistenz zu ermöglichen.

Vierter Grundsatz: Lernen, in Zeiten wissenschaftlicher Kontroversen zu leben

Eine linke Partei steht aus meiner Sicht auf der Seite der Komplexität und gegen die Versuchung der Vereinfachung, die schnellen Kurzschlüsse der Rechten. In der jüngsten Vergangenheit, also zur Zeit der Modernisierung, war Vereinfachung die beherrschende Losung. Für die Linke völlig überraschend stellt sich heraus, daß Wissenschaft und Technologie die Debatten über Zwecke nicht mehr vereinfachen. Anstatt politische Konflikte zu befrieden, liefern sie politischen, ethischen und ökologischen Kontroversen zusätzlichen Zündstoff. Aus diesem Grund spricht beispielsweise Ulrich Beck von der Risikogesellschaft. Dahinter verbirgt sich keine katastrophische Version der Gesellschaft, in der die Verteilung von Risiken an die Stelle der Verteilung von Gütern tritt, sondern lediglich die kleine und zugleich radikale Veränderung, von der tagtäglich in den Zeitungen berichtet wird: Wissenschaft und Technologie fügen ihre ungelösten Fragen den schon bisher ungelösten Fragen hinzu, sie verringern deren Zahl nicht. Die Linke sollte den Vereinfachern das Leben schwer machen, die Naturwissenschaft und Technologie dazu mißbrauchen, politische Prozesse zu umgehen.

Fünfter Grundsatz: Die Losung heißt nicht Globalisierung

Eine neu formierte linke Partei sollte mit dem neuen Modebegriff Globalisierung äußerst sorgfältig umgehen. Wie viele Anthropologen gezeigt haben, stehen wir nicht an der Schwelle zu einer neuen globalisierten Welt, deren Merkmal das Verschwinden von Kulturen ist. Vielmehr geschieht genau das Gegenteil, d.h. wir haben es mit der Entstehung vieler neuer Kulturen zu tun; dieser Prozeß unterminiert die übliche Bedeutung der Begriffe „lokal“ und „global“. Wir Europäer haben irgendwann ein Konzept von Universalität entwickelt, das auf einer bestimmten Version einiger spezieller Wissenschaften beruht, und daraus abgeleitet, das „lokale“ sei exotisch, eigenartig, archaisch und zum baldigen Aussterben verurteilt. Der Einheit der globalen Natur wird die Vielfalt lokaler Kulturen gegenübergestellt. Diese Dichotomie gehört in den Kontext des Strebens nach Modernisierung des Planeten. Die beiden Begriffe dieser Gegenüberstellung jedoch – Natur und Kulturen – verändern sich plötzlich: Lokale Kontexte haben überall auf der Welt vor allem durch die neuen Kommunikationsmedien Möglichkeiten entwickelt, sich in ihrer Unterschiedlichkeit Gehör und Achtung zu verschaffen. Diese neue „Globalisierung der Unterschiede“ (Appadurai 1996) ist das genaue Gegenteil der katastrophalen Aufsplitterung in unvereinbare Standpunkte, die mit dem Scheitern der Modernisierung zu erwarten ist.

Sechster Grundsatz: Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik

Heute glaubt die Rechte, sie könne demokratische Prozesse umgehen oder verkürzen, weil sie mit der Ökonomie über unbestreitbare Gesetze der wichtigsten Wissenschaftsdisziplin verfüge, mit denen sich alles erklären läßt, wenn man nur die ebenfalls feststehenden Ergebnisse einiger anderer Wissenschaften hinzufügt: ein wenig Neodarwinismus, eine Spur „Eugenetik“, ein paar Ergebnisse der kognitiven Wissenschaften. Dieser Wandel im Verhältnis von Politik und Wissenschaft eröffnet der Linken eine hervorragende Chance, einen weiteren Unterschied zur Rechten zu entwickeln. Die Frage lautet ganz einfach: Will man eine politische Ordnung mit zwei Kammern aufbauen, deren eine sich die Wissenschaft nennt und angeblich keine Politik betreibt, aber alle wichtigen Entscheidungen trifft, während die andere, die Politik, angeblich die Entscheidungen trifft, es in Wirklichkeit aber nur noch mit Vorlieben und Interessen zu tun hat? Oder geht es nicht im Gegenteil um einen einheitlichen politischen Prozeß, in dem die Fragen, die uns alle miteinander verbinden, Dinge und Menschen, explizit als politische Fragen behandelt werden?

Siebter Grundsatz: Das kollektive Experiment

Wenn die Linke einen neuen Unterschied zwischen sich und den beiden Rechten – der globalistischen und der ethnizistischen – definieren und sich zugleich von den Grünen und ihrem Dualismus von Natur und Gesellschaft abgrenzen will, so kommt es wesentlich darauf an, den Unterschied zwischen Wissenschaft und Forschung zu erkennen. Es geht heute vor allem darum, daß die kollektiven Experimente, an denen Milliarden von Menschen, Tieren und Dingen teilnehmen, ohne Protokoll, ohne Rückkopplungsschleifen, ohne Berichterstattung, ohne Archive, ohne Kontrolle und ohne adäquate politische Abstimmungsverfahren stattfinden. Was also fehlt, sind Prozeduren, durch die sich herausfinden läßt, was gelernt wurde und wie der nächste Schritt aussehen soll.

Achter Grundsatz: Die kollektive Aneignung des ökonomischen Kalküls

Wirtschaftswissenschaft ist zu kritisieren, weil sie gegenwärtig keine ihrer Aufgaben bewältigt: Sie ist weder deskriptiv – und damit nicht legitimiert als Wissenschaft –, noch ist sie normativ, so daß ihr auch die Legitimation fehlt, ethische Fragen zu behandeln. Es ist schließlich nicht möglich, den langsamen und mühevollen Prozeß der kollektiven Enscheidungsfindung dadurch zu umgehen, daß man die Ergebnisse tabellarischer Kalkulationen am Computerbildschirm abliest – gleich in welcher Rechenart sie angestellt wurden. Statt sich der herrschenden Meinung in der Ökonomie anzuschließen oder davon zu träumen, eine wissenschaftlichere „proletarische“ Volkswirtschaftslehre and die Stelle der „bürgerlichen“ Theorie zu setzen, bietet sich der Linken die außergewöhnliche Gelegenheit, die erste nicht-marxistische Partei in der Geschichte der westlichen Welt zu gründen, die erste Partei, die nicht der Losung folgt, daß eine Wissenschaft, die Wirtschaftswissenschaft, historische und soziale Gesetzmäßigkeiten formulieren könnte, auf die sich Politik gründen ließe.

Neunter Grundsatz: Von der Berechenbarkeit zur Beschreibbarkeit

Es geht für die Linke nicht länger darum, sich auf eine alternative Wirtschaftswissenschaft zu verlassen, sondern die Frage lautet: Gibt es eine Alternative zur Wirtschaftswissenschaft, die die Aufgabe der Beschreibung und der Normsetzung löst, sich also auf Fakten und Werte stützt – Fakten im Namen der Werte, Werte im Namen der Fakten? Ich neige zu der Auffassung, daß wir uns in einem allmählichen Übergang vom Konzept der Berechenbarkeit zu einem neuen Konzept der Beschreibbarkeit befinden. In dieser Perspektive kann man den Kapitalismus als eine der zahlreichen Methoden ansehen, die durch Einsatz von Macht entscheiden, welche Ressourcen und Wirkungen der Produktion in die Kostenrechnung eingehen und welche als externe Kosten unberücksichtigt bleiben. Der Linken bietet sich die außergewöhnliche Chance, den Kapitalismus nicht als eine Produktionsweise zu bekämpfen, zu der es nur eine einzige Alternative, nur ein anderes Produktionssystem zu geben scheint, sondern die ökonomische Wissenschaft ganz aufzugeben und sich nicht damit abzufinden, daß diese merkwürdige Wissenschaft, die im 18 Jahrhundert zur Stabilisierung der politischen Ordnung erfunden wurde, das letzte Wort haben soll, wenn zu entscheiden ist, wie das Verhältnis von Menschen und Dingen zu gestalten ist.

Zehnter Grundsatz: Ein starker Staat

Überall in Europa sammeln sich die versprengten Reste der alten Linken verschiedener Coleur zur Verteidigung der Reste des früher starken Staates, der in der Moderne entstand – u.a., um die Brutalität der Märkte zu mindern. Daraus entwickelt sich eine neue Spaltung von Alter und Neuer Linker an der merkwürdigen Frage, ob man den Staat vollständig abbauen oder als Damm gegen die Fluten der Globalisierung erhalten soll. Um sich einen jugendlichen Anstrich zu geben, versuchen die Führer der Linksparteien häufig, die Rechte im Wettstreit um den raschen Abbau des Staates zu schlagen. Auch diese wirklich eigenartige Situation gehört zum Erbe der verschiedenen Kalten Kriege unseres Jahrhunderts. Die Linke kann sehr wohl ihrem Verlangen treu bleiben, „die Produktivkräfte von ihren Fesseln zu befreien“, sollte darunter aber die Entfesselung der Kräfte der Demokratie verstehen. Um kollektiv entscheiden zu können, welche Organisationsform die bessere ist, brauchen wir in der Tat einen starken Staat: dies ist aber kein Staat, der die Fähigkeit der Zivilgesellschaft zur Vereinbarung ökonomischer Optima ersetzt oder außer Kraft setzt. Der Staat sollte tatsächlich befreit werden, und zwar von der belastenden Aufgabe, den Markt und die Netzwerke zu ersetzen, „Laisser-faire, laissez-passer“ ist dann nicht mehr als Parole zu verstehen, die den Markt gegen die Einmischung des Staates verteidigt, sondern die den Staat vor Behinderungen durch andere Institutionen schützt. Der neue Staat der Linken sollte befreit werden, so daß er sich auf die einzige Aufgabe konzentrieren kann, die nur er übernehmen kann: das kollektive Experiment zu begleiten, zu dokumentieren, zu erfassen, anzustoßen und zu organisieren, an dem wir alle, ob wir es wollen oder nicht, teilnehmen.


Literatur
Arjan Appadurai (1996): Modernity at large: Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis, University of Minnesota Press
Bruno Latour: (1995) Wir sind nie modern gewesen, Berlin
Isabelle Stengers (1996): Cosmopolitiques – Tome 1: La guerre des sciences. La découverte & Les Empêcheurs de penser en rond, Paris
Isabelle Stengers (1997): Power and Invention. Mit einem Vorwort von Bruno Latour „Stengers' Shibboleth“. Minneapolis, University of Minnesota Press

Auszüge aus einem Vortrag, den Bruno Latour zuerst auf dem 5. Internationalen Ingenieurkongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung im Mai 1998 in Köln gehalten hat. Publiziert in: Werner Fricke (Hg.): Innovationen in Technik, Wissenschaft und Gesellschaft. Forum Humane Technikgestaltung, Band 19, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1998. Übersetzung aus dem Englischen: Werner Fricke

Bruno Latour studierte Philosophie und Anthropologie. Nach Feldstudien in Afrika und Kalifornien spezialisierte er sich auf die Beobachtung der Arbeit von Wissenschaftern und Technikern. Zusätzlich zu seinen Arbeiten auf den Gebieten Philosophie, Geschichte, Soziologie und Wissenschaftsanthropologie wirkte er an zahlreichen Studien über Wissenschaftspolitik und Forschungsmanagement mit. Er ist Professor am Centre de sociologie de l'Innovation an der Ecole nationale supérieure des mines in Paris und Gastprofessor an der London School of Economics.

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