Ein Lebenslauf von 61 Jahren

„Ein Lebenslauf von 61 Jahren“ von Dieter Roth

Dieter Roths Arbeit in der wöchentlichen Fernseh- und Radiobeilage des „Standard“ ist ein Meisterwerk in der zehnjährigen Geschichte von Auftragswerken im medialen Raum durch museum in progress. Das Werk kam zustande, als der Schweizer Künstler mit isländischem (Haupt- und Neben-)Wohnsitz seine Einzelausstellung in der Wiener Secession vorbereitete. Von August 1995 bis März 1996 lief in der Folge Dieter Roths „Bastelnovelle“ donnerstags in der Tageszeitung ab. Die Zeitungsleser wurden mit unprätentiös gekennzeichneten Einschaltungen konfrontiert, bei deren Lektüre man in ein Reich multipler, unvorhersehbarer Absurditäten abdriftet: die Welt wird in diesen Kurztexten, die mit den auf der Zeitungsseite enthaltenen Informationen eng verwoben sind, zum absurden Wahnsinnsspektakel, das mit dem Ende der Roth-Lektüre aber wieder zu einem normalen Ding zurückkehrt.

Technisch und organisatorisch ist Dieter Roths „Bastelnovelle“ im „Standard“ recht einfach: Der Künstler hat in einem weit längeren Text, dem 1990 entstandenen Anti-Roman „Ein Lebenslauf von 50 Jahren“, eine Reihe von Worten und Wortgruppen unterstrichen und diesen angemerkten Text dem Team des museum in progress und der Redaktion der Tageszeitung „Der Standard“ übergeben. Dazu gab Roth eine Spielregel vor, die den Kern des Kunstwerks bildet: Der diensthabende Redakteur hatte Woche für Woche eine bestimmte Anzahl an Worten und Sätzen aus Roths „Lebenslauf“ in die Programmbeilage in Form mehrerer „Kästen“ auf fortlaufenden Seiten aufzunehmen, zugleich aber musste er die vom Künstler im Originaltext unterstrichenen Worte durch Film- oder Sendungstitel ersetzen, die auf der gleichen Seite im österreichischen Radio- und Fernsehprogramm bereits angeführt waren. Selbstverständlich wusste der Leser nicht von dieser Spielregel. Dieter Roths „Bastelnovelle“ erschien in der simplen Form eines Fortsetzungsromans.

Drei Aspekte stechen an dieser Arbeit hervor. Anders als die weit überwiegende Anzahl der Künstler, die für museum in progress Auftragsarbeiten im medialen Raum ausführten, hat sich Dieter Roth nicht des Bildes bedient, sondern ist im ureigentlichen Medium der Tageszeitung verblieben, dem gedruckten Text. Eine Tageszeitung funktioniert in erster Linie über den Text. Selbst Boulevardblätter verwenden grossformatige Fotos auf der Titelseite nur zur Untermauerung der geschriebenen Botschaft, die – anders als in Wochen- oder Monatsmagazinen – die Bedeutung transportiert. Kein anderer Künstler in der zehnjährigen Werkgeschichte von museum in progress hat sich so sehr auf den Text als Medium der Tageszeitung konzentriert wie Dieter Roth. Dies erklärt sich nur zum Teil aus dem Umstand, dass Dieter Roth mehreren Avantgardekunst-Strömungen der sechziger und siebziger Jahre angehörte, wie dem „Fluxus“, dem Umkreis der „Wiener Gruppe“ und des „Wiener Aktionismus“, die durchwegs ein enges Verhältnis von bildender Kunst, Dichtung, Musik, experimenteller Literatur und Aktion eingingen. Daraus stammt die Souveränität, mit der Roth Sprache als bildender Künstler in der „Bastelnovelle“ ausübt – sie wird so eingesetzt, dass jede Erzählung, jeder Schein, dass sich durch Sprache die Übermittlung von Information leisten ließe, beim Lesen explodiert. Darüber hinaus aber hat sich Dieter Roth 1995, als diese Arbeit zustande kam, wie kein anderer Künstler bei museum in progress das Sprachmedium der Tageszeitung assimiliert. Er ist allein mit Text umgegangen, um aber Sprache anzuhalten und damit Bilder zu schaffen.

Dieter Roth hat zugleich keine beliebige Stelle in der Tageszeitung für die Publikation seines Fortsetzungsromans gewählt. Die TV- und Radiobeilage ist der einzige Teil einer Tageszeitung, der mehr als zwei Tage nach Erscheinen des Blattes noch gelesen wird. Während die anderen Zeitungsteile längst weggeworfen sind, wird die Programmbeilage von mehreren hunderttausend Lesern mehrfach während einer Woche zu Hand genommen, ähnlich wie ein Roman, den man noch nicht zu Ende gelesen hat. Im Programmheft ergibt sich überdies ein flanierendes Lesen, wenn der Zeitungskonsument unschlüssig im Angebot der TV-Sender herumsucht. Die Bedingungen für eine Arbeit, die Lesen und Schauen verbindet wie Roths „Bastelnovelle“ im „Standard“, sind damit gerade in der gemeinhin missachten, scheinbar geistlosen TV- und Radiobeilage gegeben. Die Verquickung Roth'scher Anti-Erzählung und der Titel der Spielfilme des TV-Abends stellte dabei die Wahrnehmung der Welt als Normalität auf den Kopf. Darum hat Dieter Roths Lebenswerk insgesamt gekreist.

Drittens hat Roths Arbeit wie keine andere bei museum in progress die Zeitung als solche involviert. Seiner (heimlichen) Spielregel folgend, hatten die Redakteur des „Standard“ die Arbeit selbst zu konzipieren und auszuführen. Der bürokratische Apparat einer Tageszeitung war mit einer vom Künstler hinterlassenen Vorschrift, die letztlich ein ähnliches Statut hatte wie eine beliebige überstürzt hereinkommende Agenturmeldung, allein sich selbst überlassen: man änderte den vorbereiteten Text.

Die Arbeit für den „Standard“ nannte Dieter Roth „Ein Lebenslauf von 61 Jahren“. Das Werk steht in der Nachfolge der umfangreichen Publikationsarbeit, die der Künstler in den siebziger Jahren mit seinem eigenen Verlag für Künstlerkollegen unternahm (er edierte neben anderen Dominik Steiger, dessen „Letterfälle“ im „Standard“ Roths Arbeit vorwegnehmen), sowie seine „Gesammelten Werke“ in rund zwanzig Bänden, die einen Höhepunkt des Künstlerbuchs bedeuten. 1982 konzipierte Dieter Roth einen denkwürdigen, gratis verteilten Offset-Katalog anlässlich seiner Einzelausstellung im Schweizer Pavillon der Biennale Venedig. 1995 wiederholte er diese Konvolutform bei seiner Ausstellung in der Wiener Secession. Der wöchentliche Fortsetzungsroman in der Tageszeitung „Der Standard“ war in der Folge seine letzte große publizistische Arbeit.

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