Austria im Rosennetz 05

Grenzgängerei zwischen Sprache und Musik. Gespräch mit Gerhard Rühm

Robert Fleck: Sie stehen wie niemand sonst in der österreichischen Kunst seit den frühen fünfziger Jahren für die Verwebung von Musik, bildender Kunst und Dichtung in einem einzigen Werk. Zugleich sind Ihre Werke streng, alles andere als barock. Wie erklärt sich diese Grenzgängerei?

Gerhard Rühm: Ich komme von der Musik her. Meinen Hochschulabschluß machte ich in Klavier und Komposition. Doch dann zog ich mich aus dem Musikleben zurück, weil der Kompositionsunterricht in Wien damals furchtbar konservativ war. Man hatte nach dem Krieg die Chance, Ernst Krenek als Lehrer zu bekommen. Doch die Zwölftonmusik galt als zu radikal und abwegig.

RF: Aus den fünfziger Jahren gibt es von Ihnen Lautgedichte und Wienerlieder in Zwölftontechnik. Sie hatten durch Ihren Vater, Chefcellist bei den Philharmonikern, Musik im Blut.

GR: Die Abschlußprüfung habe ich als erster nach dem Krieg mit einem Schönberg-Stück abgelegt. Die Zwölftontechnik hatte ich mir selbst angeeignet. Später ging ich privat zu Josef Mathias Hauer, der in Wien seine eigene Zwölftontechnik lehrte. An ihm faszinierte mich, wie sich die Musik von einem Konzept ausgehend fast von selbst entwickelt, wobei paradoxerweise eine ausgesprochen meditative Musik entstand. Hauer ist auch heute viel zu wenig bekannt.

RF: Ab 1955 sind Sie als Dichter ein Mitbegründer der legendären „Wiener Gruppe“, neben Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener. Wie kommt ein Musiker zur Sprache?

GR: Die Weiterentwicklung der Zwölftontechnik führte, wie in der seriellen Musik damals auch in Frankreich oder Deutschland, auf Lautstärke und Rhythmik, und zur Überlegung, die permutativen Reihen-Techniken auf die Sprache anzuwenden. Schon 1952 hatte ich zu Arnulf Rainers „Ein-Tages-Ausstellungen“ elementare Musikstücke wie die „Ein-Ton-Musik“ vorgetragen. Das waren spektakuläre Veranstaltungen, wie man sich das heute nicht mehr vorstellen kann. Mit Innovationen rennt man heute offene Türen ein. Damals regten sich die Leute maßlos auf.

RF: Die „Wiener Gruppe“ bezog ab 1955 den Dialekt in die Avantgardedichtung ein. „Mid oana schwoazn Dintn“ von H.C. Artmann, der der „Wiener Gruppe“ nahestand, wurde 1958 ein populärer Hit.

GR: In Wien und allgemein in Österreich spielt der Dialekt eine weitaus stärkere Rolle als in Deutschland. Wenn man sich mit dem Phänomen „Sprache“ beschäftigt, kann man die Umgangssprache nicht ausklammern. Dazu kommt: Wenn man eine unbewußte Textproduktion anstrebt, meldet sich der Dialekt zu Wort. Man denkt ja häufig in der Umgangssprache.

RF: „Austria im Rosennetz“ zeigt Sie als bildender Künstler, mit Fotomontagen der sechziger und siebziger Jahre.

GR: Auch das ging aus der Arbeit mit der Sprache hervor. In den „Konstellationen“, die 1958 als erste Ausstellung der Visuellen Poesie in der Galerie Würthle gezeigt wurden, habe ich Wörter nicht mehr in eine lineare Beziehung versetzt, sondern in eine Beziehung auf der Fläche, die in mehreren Richtungen zugleich lesbar ist. Das interessierte mich dann auch in realen Situationen, aktuellen Fotos. Es ging bis zum ersten Totalbuch, „Rhythmus R“, wo das Umblättern, verschiedene Stilarten – lexikalischer Stil, Schimpfstil usw. – und die Farben in die Form des Buches einbezogen sind. Immer ging es um die Hinterfragung der Bezeichnung von Dingen, was ja Sprache ist, aber auch des Abbilds von Dingen und der Beziehung des Abbildes zur Bezeichnung und zurück zur Sprache.

RF: Die „Wiener Gruppe“ hat, neben anderen Schriftstellern, die Sprachphilosophie des 1954 verstorbenen und in Österreich zunächst vergessenen Ludwig Wittgenstein wiederentdeckt.

GR: Wir kannten Wittgenstein aus englischen Publikationen. Damals gab es keine einzige deutschsprachige Originalausgabe. Wir beschäftigten uns auch mit Moritz Schlick, Rudolf Carnap und Fritz Mauthners Kritik der Sprache, der ganzen vergessenen österreichischen Tradition. Oswald Wiener hat sich ganz besonders in diese Richtung engagiert.

RF: Oswald Wiener ist heute eine graue Eminenz des Denkens über Kunst, unterrichtet aber in Düsseldorf. Sie sind nach 22jähriger Lehrtätigkeit in Hamburg emeritiert. Warum ist die „Wiener Gruppe“ an heimischen Hochschulen ein Stiefkind?

GR: Als meine „Sämtlichen Dialektdichtungen“ im Grazer Verlag Droschl erschienen, gab es in keiner einzigen österreichischen Zeitung eine Notiz. Zugleich bedaure ich, daß unsere Namen zu sehr immer nur mit der „Wiener Gruppe“ verbunden werden und man sich viel zu wenig dafür interessiert, was später entstand. Hätte ich 1964, als ich nach Deutschland ging, mit dem Schreiben, Zeichnen und Musikmachen erst begonnen, gäbe es auch ein vollständiges Lebenswerk. Gerade die Vermischung der verschiedenen Kunstarten hat sich erst intensiviert, nachdem ich die Komposition wieder aufgriff. So entstanden die „Tondichtungen“ – Texte, die am Klavier gespielt werden, wobei der Text dazugesprochen werden kann. Das Verfahren ist der Zwölftontechnik analog, nunmehr aber ausgehend von der Sprache.


Gerhard Rühm, geb. 1930 in Wien. Lebt in Köln. In diesem Herbst erscheint „Visuelle Poesie“ im Haymon Verlag, Innsbruck. Ausstellungen waren zuletzt in der Galerie Pohlhammer, Steyr, und dem Salzburger Fotohof zu sehen (Katalog). Im November findet im Rahmen von „Wien Modern“ ein Zyklus von fünf Klavier- und Gesangsabenden mit Musik und Musikdichtung von Gerhard Rühm statt, der Ur- und österreichische Erstaufführungen enthält.

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