Austria im Rosennetz 04

Die Wahnsinnskuratel. Über die Kälte im Leben von Hans Gross und Sohn Otto Gross

Selbst im Sommer müssen die Räume des k.k. Kriminalistischen Instituts in Graz geheizt werden. Sie liegen im Keller der Universität, gelten ursprünglich als unbewohnbar und sollen nur eine provisorische Unterbringung des Instituts darstellen. Allerdings muß der Leiter, gleichzeitig als Kustos des Kriminalmuseums, welches in ebenjenen, mehr als dürftigen Räumlichkeiten untergebracht ist, der Untersuchungsrichter, Staatsanwalt und Senatsvorsitzende Hans Gross (1847 in Graz geboren), den wissenschaftlichen Betrieb im Institute und die diesfälligen Arbeiten nach noch nicht einmal zweijähriger Tätigkeit im Januar 1914 einstellen, da er und seine Mitarbeiter an fortwährender Unterkühlung leiden. 

Bis zu seinem Tod 1915 ist es ihm nicht mehr möglich, andere Räumlichkeiten zu finden. Zwölf Jahre hat Hans Gross, dessen wissenschaftliches Werk sehr wohl darauf angelegt ist, dem starken Staat die Mittel zu seiner Sicherung und Machtentfaltung in die Hand zu geben, für seine Dozentur gekämpft, allein seine kriminalwissenschaftlichen Forschungen reichen trotz des reichen Inhalts und der praktischen Brauchbarkeit dem zuständigen Ministerium nicht, um die Zustimmung für seine geforderte Lehrkanzel zu geben, sodas er einen Universitätsumweg über Czernowitz und Prag machen muß. Der überzeugte Anhänger der kriminal-biologischen Schule, der mit faszinierender Akribie Fakten sammelt, die für Strafverfahren bedeutsam sind, der Motiv- und Indizienforscher veröffentlicht 1893 sein nachhaltig in vielen neu bearbeiteten, ergänzten und verbesserten Auflagen erscheinendes Werk Handbuch für Untersuchungsrichter, in dem er mit Nachdrücklichkeit darauf hinweist, wie wichtig die auch nur geringsten Indizien zur Beweisführung eines Falles sind. Als aktuelle Ergänzung zum Handbuch gründet er 1898 das Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, eine periodisch erscheinende Zeitschrift, deren Herausgeber er ist.

Hans Gross ist auch der Vater von Otto Gross (1877–1920), Schüler von Sigmund Freud und Privatdozent für Psychopathologie, von dem der Vater hofft, daß er seine Arbeiten von der medizinischen Seite her ergänzt, aber trotz zweier Publikationen Ottos im Archiv (1901, 1902) sollte es anders kommen. Otto Gross, der vehement für eine mutterrechtliche Gesellschaftsordnung eintritt, kommt um 1905 erstmals auf den Monte Verità bei Ascona, zieht 1906 nach München und bewegt sich in der Anarchistenszene. 1911, dem Jahr, in welchem er, nach dem Selbstmord einer Freundin auf dem Berg der Wahrheit, in einer psychiatrischen Anstalt in Mendristo und Wien, Steinhof, interniert wird, plant er, ebenfalls in Ascona eine Anarchistenschule zu gründen.

Doch eine steckbriefliche Suche treibt ihn nach Berlin, wo er sich Franz Pfemferts Gruppe Aktion anschließt, in der gleichnamigen Zeitschrift publiziert und im November 1913 als gefährlicher Anarchist verhaftet wird. Die Ausweisung aus dem preußischen Staatsgebiet besteht darin, daß man ihn unter polizeilichem Geleitschutz an der Grenze den österreichischen Beamten übergibt, die gekommen sind, um Otto Gross auf Veranlassung des Vaters in die Privat-Irrenheilanstalt Tulln einzuweisen.

Trotz einer internationalen Pressekampagne seiner Freunde, darunter Franz Jung und Erich Mühsam, wird er nach Begutachtung durch zwei Amtsärzte als nicht fähig befunden, seine Angelegenheiten selbst zu regeln und daher der Entmündigung empfohlen. Der zum Kurator eingesetzte Vater versucht zudem Otto Gross' Frau Frieda das Kind wegzunehmen, die Außerehelicherklärung zu erwirken, während der Sohn in die Landesirrenanstalt im schlesischen Troppau verlegt wird, da in Tulln aufgrund der Pressekampagne eine gewaltsame Befreiung des Patienten zu befürchten ist. Auch nach dem Tod von Hans Gross (1915) sieht es das Gericht als zu verfrüht, den Wahnsinnskuratel in eine beschränkte Kuratel umzuwandeln und setzt einen neuen Vormund ein. Der Entmündigte erleidet in Temesvar einen Rückfall in die Drogensucht, wird von der dortigen psychiatrischen Abteilung nach Wien, Steinhof, transferiert – und eine Woche später als geheilt und bürgerlich erwerbsfähig entlassen. Otto Gross reist und publiziert, verkehrt in Berliner (Dada-)Kreisen und trifft Anton Kuh wieder, mit dessen Familie ihn eine lange Freundschaft verbindet.

Kuh plant gemeinsam mit Franz Werfel eine Literaturzeitschrift herauszugeben, an der sich Gross beteiligen soll, aber da er sich mit Werfel nicht verträgt, bleibt es beim Projekt. 1920, genau am elften Februar wird Otto Gross von Freunden gefunden, im Durchgang zu einem Berliner Lagerhaus, halb verhungert und frierend, mit einer Lungenentzündung und möglichen Entzugserscheinungen, die ihn das letzte Mal in seinem Leben in ein Sanatorium bringen, in dem er zwei Tage später stirbt.


Das Umfeld von Otto Gross in der Kommunenbewegung behandelt der Katalog Monte Verita, hg. v. Harald Szeemann, Mailand 1980. Biographie: Michael Hurwitz, Otto Gross – Paradiessucher zwischen Freud und Jung, Frankfurt/Main 1979.

Klaus Ferentschik, Dr. Phil., in Graben/Baden geboren, lebt und schreibt derzeit in Wien.

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