Symposion 11

Die große Rolle der Kunst im Fin de Siècle. Gespräch mit John Latham

Hans-Ulrich Obrist: Was bewog Sie einst, Kunstwerke – Skulpturen – gerade aus Büchern zu formen? 

John Latham: Bücher sind komprimierte Zeit und haben zugleich mit dem „Action painting“ zu tun, das die Nachkriegsmalerei beherrscht hatte. Was haben Bücher in Malerei zu suchen? Sie sind schwarzweiß, also grafisch interessant, und insgesamt sehr formale Objekte. Das hat mich augenblicklich begeistert. Man hat da mit einer Art von Geometrie zu tun, die in visueller Hinsicht alles vermag und aussagt. Es handelt sich um ein Universalzeichen. Das Innere von Büchern ist schwarzweiß, vor allem aber in Linien gehalten. So sind lineare Zeit und die Zeitdimension einer „Konstellation“, einer Gleichzeitigkeit im selben Medium präsent, damit implizit auch Information. Das Interesse an dieser Verbindung von reiner Form und geballter Zeit ließ mich bildender Künstler werden – auch wenn das nicht in die Vorstellungen der Kunstkritiker paßt. 

HUO: Sie arbeiteten mit einem Farbgewehr, verbrannten Bücher und machten „Ein-Sekunden-Zeichnungen“.

JL: Die Idee war bereits, alle diese Gattungsgrenzen zu sprengen. Wir waren damals in der beginnenden Happening-Bewegung.

HUO: Aus dieser ging in den sechziger Jahren der „Wiener Aktionismus“ hervor. Man könnte sagen, Sie seien ein wichtiger Vorläufer dafür gewesen.

JL:Wir lernten uns beim „Destruction In Art Symposion“ (DIAS) 1966 in England kennen. Niemand von uns hatte damals Geld, alle fuhren per Anhalter.

HUO: Da hatten Sie aber schon Künstler und Wissenschaftler zusammengebracht.

JL: Wir haben zunächst, um 1954, versucht, eine Zusammenarbeit hochgradiger Spezialisten zu organisieren. Da waren ein weltführender Astronomieprofessor, Clive Gregory, und eine Völkerkundlerin, Anita Kohsen. Akademische Forscher konnten und können heute noch solche Verbindungen und „zeitbefristete Zusammenarbeitsverträge“ nicht verstehen. Die Kunstidee aber wirkte wie eine übergeordnete Instanz und ließ die Gräben überschreiten. 1954 gründeten beide das „Institute for the Study of Mental Images“ (Forschungsinstitut für mentale Bilder). Sie erklärten mich ehrenhalber zum Gründungsmitglied. Heute bin ich das letzte noch lebende Relikt des „ISMI“.

HUO: Sie arbeiteten aber weiterhin als Künstler?

JL: Wichtiger ist mir in diesem Rahmen die interdisziplinäre Aktivität, aus der die „Artist Placement Group“ und später „O+I“ hervorgingen. Clive Gregory und Anita Kohsen schrieben 1959 ein Buch, Die O-Struktur – ein bedeutendes Werk, aber ein völliger kommerzieller Mißerfolg. Clive starb 1964 bei einem Autounfall. Das „ISMI“ hat auch ein Buch über russische Experimente mit mentaler Suggestion und die Zeitschrift Cosmos herausgegeben. Mit Barbara Steveni gründete ich 1966 das Ganze neu: In der „Artist Placement Group“ ging es wie am Ursprung zehn Jahre zuvor darum, Verbindungen und Fusionen zwischen den Disziplinen von Kunst und Denken in diesem Jahrhundert herzustellen, von der Ästhetik und Philosophie der Kunst bis zur neuesten physikalischen Theorie. Denken Sie nur an die Geschichte des 20. Jahrhunderts und wie wichtig eine solche Begegnung da erscheinen mag. Es geht uns darum, die verschiedenen geistigen Kulturen in ein großes „Verständnis“ zueinander zu bringen – dies kann das große künstlerische Ereignis dieses Jahrhundertendes sein. Daß Konvergenzen dieser Wissensfelder überhaupt möglich sind, schlossen wir aus unserer Praxis in nichtsprachlichen und vorsprachlichen Darstellungen, das heißt: womit bildende Kunst umgeht, dem Bild. Was im künstlerischen Bereich als Arbeit an der Form auftritt, kann durchaus eine wissenschaftliche Formulierung ersten Ranges sein – wenn es nur erst einmal Brücken zwischen diesen noch heute getrennten Feldern gibt.

HUO: Heute nennen Sie Ihre Organisation „O + I“, was „Organization and Imagination“ bedeutet (Organisation und Vorstellungskraft), aber im Englischen auch an „Der andere und ich“ erinnert.

JL: Wir sprachen vorhin vom Schwarzweiß als der visuellen Dimension des Buches. Unsere Kultur hat sich mit der Erfindung des Systems „Null oder Eins“ (O + I) als der Basis jeglicher Computersprache bewußt auf einen solchen Schwarzweiß-Standpunkt zurückgezogen. „Null oder Eins“, „Nichtzeichen oder Zeichen“ – darauf beruhen alle Computerrechnungen und digitalisierten Operationen. Damit schaltet man die Zahlen aus der Basisrechenoperation aus, also das traditionelle Verständnis von Mathematik. Es gibt nur noch „Schwarz“ und „Weiß“, „leere Fläche“ und „Zeichen“. Dabei handelt es sich aber um ein formales Prinzip, das die Kunst in diesem Jahrhundert schon lange vorher ausgelotet hat. So funktionieren Kunst und Wissenschaft im Computerzeitalter letztlich auf der gleichen Basis.

HUO: Mit der „Artist Placement Group“ haben Sie es geschafft, Künstler in Gemeinderäte wichtiger Städte in Großbritannien einzuschleusen bzw. Künstlern in Unternehmen, großen Forschungsinstitutionen, sogar in Ministerien Eintritt zu verschaffen.

JL: Der Künstler hat eine ganz andere Beachtung der Zeitdimension. Die Künstler haben sich aus verschiedenen Gründen mehr als Philosophen und Wissenschaftler für die Zeit interessiert. Die Dimension der Zeit ist es gerade, was Politikern, Unternehmern und anderen Entscheidungsträgern abgeht, nicht nur weil sie zu sehr ins Tagesgeschäft verstrickt sind. Es geht um einen Wechsel des Weltmodells überhaupt: die Organisation der Welt auf eine Zeitbasis „T“ anstelle der Raumbasis „S“ unserer Konzeption des Handelns zu gründen. In die großen Entscheidungen die Zeitdimension als neue notwendige Grundlage einzubringen – diese Revolution ist die große Rolle und Aufgabe der Kunst im Fin de siècle. Daran arbeitet heute unsere Organisation. 


John Latham, geboren 1921 in Afrika, war zunächst mit Collagen und Zufalls- und Destruktionsbildern aus Büchern und diversen Gegenständen seit den fünfziger Jahren neben John Cage einer der Vorläufer der Happening- und Fluxus-Kunst, die die Verknüpfung von Kunst und Leben als Mittel der radikalen Umwälzung der Lebensbedingungen betrieb. In der 1966 gegründeten „Artist Placement Group“, heute „O + I“ (für „Organization and Imagination“), betreiben John Latham und Barbara Steveni, mit der er seit 1951 zusammenarbeitet, die Infiltrierung kommunaler und unternehmerischer Häuser durch die Aufnahme von Künstlern in den Mitarbeiterstab. Latham und Steveni wollen damit die „Raumbasis“ (S/Space) des politischen Räsonnements hin zur „Zeitbasis“ (T/Time) aller notwendigen Entscheidungen des Endmillenniums verschieben. Sie bilden das Gegenstück zu Joseph Beuys' „Kunst als soziale Praxis“. John Latham und Barbara Steveni, die Organisatoren der „Artist Placement Group“ und der „O + I“, leben in London. Dank an Elizabeth McCrae, Lisson Gallery, London.

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