Symposion 09

Die Möglichkeit des menschlichen Organismus. Gespräch mit Matthew Barney

Jérôme Sans: Sie wurden ab Ihrer ersten Ausstellung 1991 in der Galerie Barbara Gladstone in New York eine Berühmtheit in der Kunstwelt, waren aber damals nur 24 Jahre alt. Ist das nicht ein starker Druck? 

Matthew Barney: Das ermöglichte es vor allem, Vorhaben zu verwirklichen, die ich zuvor reiflich überlegt, aber als utopisch, als undurchführbar erachtet hatte. „Cremaster 4“, das ich nun in der Pariser Fondation Cartier zeigte, ist eines dieser Projekte. Man bedarf eines Teams vor Ort und eines technischen Aufwandes wie in jedem heutigen Film, und das ist ohne große Sponsoren nicht möglich. Zugleich habe ich immer unter Druck gearbeitet. Als ich anfing, Skulpturen zu machen, übersetzte ich meine Erfahrungen als Hochleistungsathlet in Zeichnungen.

JS: Sie waren als College Student in der National Football League. 

MB: Im Kunststudium suchte ich, die verschiedenen Bereiche aufzufinden, in denen meine unterschiedlichen Kräfte situiert waren, und daraus Skulpturen zu machen. Man gelangt zu einem Muskeldiagramm mit den Phasen „Situation“, „Vorbereitung“ und „Arbeit“. Die „Arbeits“-Phase interessierte mich immer weniger, und meine Aktions- und Performance-Filme drehen sich seither um die Phasen „Situation“ und „Vorbereitung“. Das geht aus Zeichnungen hervor, die im Atelier entstehen und wie extreme Experimente im Kraftraum funktionieren. Manches davon wird im Training für American Football tatsächlich verwendet. Ich lud dann Freunde ein, doch mal vorbeizuschauen und mitzumachen. So entstanden diese filmischen Aktionen und Video-Performances.

JS: Es überrascht heute, drei Jahre nach Ihrer großen Beachtung auf der „Documenta 9“ in Kassel, wie sehr Sie weiterhin vom athletischen Durchtesten des Körpers als Grundlage Ihrer künstlerischen Arbeit ausgehen.

MB: Für mich drehen sich die Skulpturen und Performances mehr um eine abstrakte Erzählung – zwischen den Grenzen des Körpers und den Grenzen eines Raumes sei es die Galerie, das Museum oder eine Tiefgarage. So entwickelte sich auch die Fortsetzungsgeschichte rund um die Personen Houdini und Otto, zwei Football-Stars.

JS: Otto, Mittelmann der „Oakland Raiders“ und Star Ihres Aktionsfilms „OTTOshaft“ von 1992, spielte selbst noch mit einem Plastikknie. Sie verwenden seit langem Prothesen- und Implantationsmaterialien wie Silikon oder Teflon für Ihre Skulpturen oder als Rahmen Ihrer Fotos, die meist Filmstills Ihrer Video-Aktionen sind.

MB: Es geht um diesen endlosen Bereich der Vorbereitung des Athleten, der für plastische Erzählungen viel interessanter ist als der Bereich der Aktion.

JS: Jede Ihrer Figuren scheint androgyn zu sein und beide Geschlechter Mann und Frau, zu verbinden. Um die Rolle der Geschlechter dreht sich derzeit auch die größte intellektuelle Debatte in den USA.

MB: Diese allgegenwärtige Diskussion über die Geschlechterrolle interessiert mich kaum. Das Geschlechterthema hat mich vielleicht beeinflußt, aber weniger als andere Bereiche. Meine Arbeit dreht sich vielmehr um die endlosen Möglichkeiten, die der menschliche Organismus gehen kann.

JS: Verstehen Sie die Filme „Cremaster 1–4“ als Fortsetzungsgeschichte?

MB: Es sind nicht in erster Linie Filme, obgleich sie solche gedreht werden. Es sind vielmehr Ereignisse für verschiedene Orte. „Cremaster 1“ wird in einem Stadion in Idaho gedreht, „2“ auf einem Eisfeld in Kanada, „3“ im Chrysler Tower, „4“ auf der Isle of Man und „5“ in einem Badehaus. Es sind Jahrmarktsgeschichten mit spezifischen Charakteren, die aber nicht sexuell differenziert sein müssen.

JS: Ihr Weltbild wird einer Reihe hybrider Charaktere zwischen Mann und Frau, Mensch und Tier bestimmt.

MB: Für jeden Ort entwickle ich – zunächst in der Zeichnung – eine Reihe psychologisch definierter Charaktere, die bestimmte Bereiche des Organismus bevölkern. Das ist aber ein kontinuierlicher Prozeß, der von einem Skript zum nächsten übergeht.

JS: Die Protagonisten, die Sie selbst oder Mitspieler in den Filmen darstellen, sind Football-Stars, Magier, Transvestiten, Bodybuilder, Geschlechtswechsler und Satyre. Sehen Sie darin die „Helden“ unserer Zeit?

MB: In bestimmter Weise enden sie alle tragisch. was mich interessiert, ist, daß sie ihre Widersprüche nie auflösen. Ich denke, daß es nicht möglich ist, sich selbst als eine gelöste Gleichung zu beschreiben.

JS: Kunstkritiker sehen Ihre Arbeiten oft als Wiederanknüpfung an die Aktionskünstler der sechziger und siebziger Jahre, an Vito Acconci, Chris Burden, Bruce Nauman oder die Wiener Aktionisten, zum Beispiel Rudolf Schwarzkogler.

MB: Ich kenne die Künstler nur aus Dokumenten und Archivmaterial, aus Fotos und Video-Bändern. Wir aus unserer Generation haben ja niemals eine Performance oder Aktion dieser Art selbst gesehen. Aber wir haben möglichst exakt zu rekonstruieren versucht, was diese Künstler in den Aktionen machten und wie diese Aktionen aussahen. Das hat mich sehr fasziniert.

JS: Man sagt auch, Ihre Filme handeln von einer künstlichen, postmodernen Natur des Menschen.

MB: Ich betrachte diese Dinge keineswegs als künstlich. Ein Bodybuilder muß um konkurrenzfähig zu sein, Steroide nehmen. Man kann behaupten, daß dies ein künstlichen Eingriff auf das Muskelvolumen eines Körpers darstelle. Doch mir scheint dies keineswegs den Bereich des Natürlichen zu verlassen. Kann der Körper denn nicht alles, was er zu sein wünscht, insbesondere der skulpturale Körper? Das ist die Lektion unserer Zeit. Mir erscheint das gar nicht künstlich.

(Copyright des Textes: Jérôme Sans. Übersetzung Robert Fleck.)


Matthew Barney, geb. 1967 in Kalifornien, ist der meistbeachtete junge Künstler der neunziger Jahre. Er lebt in New York, studierte an der Yale University bei Vito Acconci und Joseph Kosuth, war Fotomodell und Rugbyspieler in der amerikanischen Profi-Liga. In Video-Filmen und amorphen Skulpturen entwickelt er eine bestürzende Welt des „Androgynen“, die die technische und körpersprachliche Perfektion der heutigen Hollywood-Filme in eine unverwechselbare künstlerische Welt überführt. Zu seinen künstlerischen Einflüssen zählen Günter Brus, der Hauptvertreter des „Wiener Aktionismus“ und Joseph Beuys. Barney, der seine Auftritte und Ausstellungsbeteiligungen strengst limitiert, bestritt im März dieses Jahres seine erste Einzelausstellung in Europa in der Fondation Cartier in Paris.

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