Symposion 08

Lernen, gegen die Evolution zu denken. Plädoyer für einen neuen Imperativ der Gefühle

Bei einer bestimmten Milbenart werden die Männchen tot geboren. Sie befruchten bereits im Mutterleib ihre Schwestern. Zu nichts mehr nütze, sterben sie, bevor sie das Licht der Welt erblicken und werden von der Mutter nur noch wie ein Exkrement ausgeschieden.

Das Replikationsprinzip an sich ist vollkommen funktionslos, vielleicht aus irgend einer Verknüpfung von Ereignissen heraus irgendwann einmal entstanden. Es steckt nichts dahinter; physikalische Gesetze schaffen den Rahmen für ein Wechselspiel von reproduktionsorientierten Faktoren, die sich selbst bedingen.

Unser Denken erlaubt auch in seiner ausgearbeitetsten Form nur ein teilweises Verständnis dieser Zusammen hänge. Verstehen können wir nur, was von unserem Denken gefaßt werden kann (sicherlich gibt es auch für uns Zusammenhänge, die sich unserem Zugriff entziehen). Lassen wir das wahrhaft Unfaßbare außer acht, denn das Faßbare ist unfaßbar genug.

Das Replikationsprinzip ist vielleicht ein evolutionärer Kompromiß aus zwei einander zuwiderlaufenden Selektionsfaktoren. Auf der einen Seite steht die einzigartige Entwicklung unserer kognitiven Fähigkeiten, die unser Denken ermöglichen. Auf der anderen Seite wird diese Entwicklung durch Selektion gebremst, weil „zuviel Denken“ auch ein Erkennen des Replikationsprinzips impliziert; mit möglicherweise nachteiligen Folgen für die eigene Reproduktion (diejenigen, die erkennen, spielen vielleicht nicht mehr mit und geben so mit keine Kopien des „Erkennens“ weiter). Unser Denken ist also das Resultat eines Kompromisses zwischen „viel“ und „zuviel“. Wir sind klug, aber nicht sehr klug. Ähnlich scheint es sich mit dem Kalzium-Gehalt in unserem Blut zu verhalten: Die Menge ist ein Kompromiß aus der Möglichkeit einer raschen Meldung im Falle eines Knochenbruchs und der Vermeidung einer bereits früh einsetzenden Arteriosklerose.

Wir haben daher Schwierigkeiten, die Tragweite des reproduktiven Imperativs zu verstehen und uns darüber zu erheben, um so wenigstens zu versuchen, eine Kultur zu entwickeln, die darüber hinausreicht, und vielleicht einen Teil unserer Probleme zu lösen. Die Design-Studenten (übrigens, Evolution ist Design) sind, mit Videokameras ausgerüstet, ausgezogen, um zufällig getroffenen Menschen Fragen über Liebe, Eifersucht und Kinder zu stellen. Das Ergebnis war erschreckend. Weit davon entfernt, wissenschaftlich-korrekt vorzugehen, zeigten die etwa 30 Fallbeispiele doch, daß die befragten Menschen größtenteils so denken, wie es die Theorie voraussagen würde. Ich möchte hier nicht näher auf die Einzelheiten eingehen. Nur soviel: Die Antworten, die aufgezeichnet wurden, waren sicherlich durch kulturelles Umfeld und persönliche Erfahrung geprägt. Dennoch, die grobe Richtung des Gesagten zeigte deutlich
– die Unkenntnis der evolutionären Kausalität und
– die subtile, aber sehr effiziente Beeinflussung unserer Lebensmaximen in Richtung optimaler Reproduktion durch Gefühle.
Vor allem den richtigen Partner zu suchen und sich selbst in eine den Möglichkeiten entsprechende hohe soziale Stellung zu bringen. Es sind Gefühle, die bestimmte Handlungsmotivationen verursachen, das Vermeiden von Unglück und die Jagd nach dem Glück, wobei das Liebesglück nur der prominenteste Vertreter ist.

Vielleicht gelingt durch ein Verständnis der gefühlsdirigierten Motivationen auch ein freierer, vom Zwang befreiter Umgang mit diesen Strukturen, die sich ja an sich nicht verändern lassen, weil sie aufgrund ihrer physiologischen Beschaffenheit ein inhärenter Teil unseres Selbst sind. Die Komplexität und Tragweite des Sachverhalts ist nicht zu unterschätzen. Wir müssen hier gegen die Evolution denken, also unser kognitives Werkzeug entgegen seiner durch Selektion ausgerichteten Bestimmung gebrauchen.

Daß die Lage nicht hoffnungslos ist, zeigt die zunehmende Zahl derer, die sich aus verschiedenen Gründen nicht reproduktiv engagieren, bzw. derjenigen, die das Replikationsprinzip durchschauen (und z. T. trotzdem Kinder bekommen – warum auch nicht?). Es scheint ein gewisses Unbehagen zu geben, dem biologischen Imperativ blind zu gehorchen. Offenbar haben wir im Laufe unserer jüngeren Geschichte (in evolutionären Maßstäben gemessen) vor allem unsere kognitiven Fähigkeiten ausgebaut, die heute dieses Unbehagen produzieren. Wir könnten auch dem anderen, korrigierenden Selektionsfaktor, der ein Zuviel an Klugheit bisher verhindert hat, ein Schnippchen schlagen, in dem wir ihm kulturell begegnen.


Carsten Höller, geb. 1961 in Brüssel, lebt heute in Köln. Promovierte 1988 zum Doktor der Biologie, Spezialgebiet Evolutionäre Verhaltensökologie und Kommunikation über Duftstoffe bei Insekten, und legte 1994 seine Habilitation vor. Neben dieser wissenschaftlichen Laufbahn begann Höller 1987 eine künstlerische Tätigkeit, die ihn in den letzten Jahren zu einem der meistbeachteten jungen postkonzeptuellen Künstler in Europa werden ließ (Beteiligungen bei: „Aperto“, Biennale Venedig, 1993, und „The Winter of Love“, Paris und New York 1994). Seine Installationen bestehen aus komplexen Anordnungen, in denen ein spielerischer, ästhetischer Zugang zu ökologischen Weltproblemen versucht wird („Geruch und Gehorsam“, 1993–1995).

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